Wahl in den Niederlanden Will Wilders nun wirklich regieren? Und was heißt das für Europa?

Die Wahl ist vorbei, Plakate werden abgehängt, wie hier in Den Haag – Geert Wilders aber bleibt eine Konstante in der niederländischen Politik. Demnächst womöglich als Regierungschef
Die Wahl ist vorbei, Plakate werden abgehängt, wie hier in Den Haag – Geert Wilders aber bleibt eine Konstante in der niederländischen Politik. Demnächst womöglich als Regierungschef
© AFP
Die Parlamentswahl in den Niederlanden hat der Rechtspopulist Geert Wilders klar gewonnen. Aber wird er auch eine Regierung bilden? Und was heißt das für Europa? Fragen an den niederländischen Politikwissenschaftler Stijn van Kessel.

Der radikale Rechtspopulist Geert Wilders hat die gestrigen Parlamentswahlen in den Niederlanden gewonnen – nach jetzigem Stand wird seine PVV, die "Partei für die Freiheit", 37 der 150 Sitze im Parlament erhalten. Sie forschen zu Rechtspopulismus und Euroskeptizismus, außerdem sind Sie Niederländer. Wie groß ist Ihre Sorge um Ihr Heimatland?
Dies ist ein riesiger Schock für alle, sowohl für Wilders' Anhänger als auch für seine Gegner. In den letzten Tagen des Wahlkampfs wurde klar, dass immer mehr Menschen Wilders unterstützen, er hat sich gut geschlagen in den Fernsehdebatten. Aber dieses Ergebnis hat niemand erwartet.

Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass Geert Wilders tatsächlich Premierminister wird, also eine Koalition unter seiner Führung schmieden kann? 
Angesichts des Abstands zu den anderen Parteien liegt der Ball nun in Wilders‘ Feld. Die zweitplatzierte rot-grüne Allianz von Frans Timmermans kommt gerade einmal auf 25 Sitze – da kommt man um Wilders nicht herum. Ihm wird zumindest der erste Versuch einer Regierungsbildung gewährt, so will es die politische Konvention auch in den Niederlanden.

Der niederländische Politikwissenschaftler Dr. Stijn van Kessel ist Assistenzprofessor an der Queen Mary University in London und forscht vor allem zu Rechtspopulismus und Euroskeptizismus
Der niederländische Politikwissenschaftler Dr. Stijn van Kessel ist Assistenzprofessor an der Queen Mary University in London und forscht vor allem zu Rechtspopulismus und Euroskeptizismus
© Stijn van Kessel

Wie sähe eine mögliche Koalition unter Wilders‘ Führung aus? 
Eine Option wäre ein Dreierbündnis zwischen Wilders, der rechtsliberalen VVD des bisherigen Premiers Rutte und der neuen Partei "Nieuwe Sociaal Contract" des ehemaligen Christdemokraten Pieter Omtzigt. Dilan Yeşilgöz, die Nachfolgerin von Rutte an der Parteispitze der Rechtsliberalen, hat eine Koalition mit Wilders am Tag nach der Wahl nicht ausgeschlossen, zuvor hatte sie eine solche Koalition sogar in Aussicht gestellt. Einige Tage vor der Wahl wurde sie dann aber etwas zögerlicher und sagte, dass sie persönlich keiner Regierung unter Wilders‘ Führung beitreten wolle – ob sie dabei bleibt, muss man abwarten. Pieter Omtzigt hat vor der Wahl eine Zusammenarbeit mit Wilders zwar ausgeschlossen und das mit dessen verfassungswidrigen Vorhaben begründet, etwa dem Verbot von Moscheen. Direkt nach der Wahl schien Omtzigt dann aber zu signalisieren, dass er durchaus offen wäre für eine Zusammenarbeit, wenn Wilders zumindest seine extremsten Positionen räumt, die Verfassung also respektiert. Weder Yeşilgöz noch Omtzigt haben Wilders bislang die Tür vor der Nase zugeschlagen. 

Will Wilders denn wirklich regieren?
Davon gehe ich aus, auch wenn ich natürlich nicht in seinen Kopf schauen kann. Allerdings wird es für ihn eine Herausforderung sein, geeignetes Personal für die Besetzung aller neu gewonnenen Sitze sowie einer Reihe von Ministerien zu finden.

Was wäre die Alternative zu einer Regierung unter Führung von Wilders?
Eine große Koalition zwischen der rot-grünen Allianz von Timmermans, der neuen Partei von Pieter Omtzigt, den Rechtsliberalen von Yeşilgöz und der liberaldemokratischen Partei D66. Ein solches Bündnis würde Wilders allerdings erlauben, seine alte Behauptung zu erneuern, wonach das politische Establishment ihn ausschließe, also den Willen des Volkes ignoriere. Das ist ein bekanntes Argumentationsmuster von radikalen Rechtspopulisten, die ja immer dazu tendieren, sich selbst als die einzigen Vertreter "des Volkes" darzustellen.

Könnten die anderen Parteien sich ein solches Bündnis gegen Wilders überhaupt leisten? Ihr Gegner wäre ein Mann, der die stärkste Partei im Parlament anführt. Er würde doch auf Jahre hinaus keine Gelegenheit verpassen, die Legitimität jeder Regierung in Zweifel zu ziehen, der er selbst nicht angehört. 
Das würde garantiert zu einem ernsthaften Problem werden. Die Koalition würde Wilders eine riesige Angriffsfläche bieten. Hinzu kommt, dass es in großen und ideologisch breit aufgestellten Koalitionen ohnehin schwierig ist, sich als Partei zu profilieren. Auch die jetzt abgewählte Regierung setzte sich zusammen aus einem relativ breiten Bündnis von Rechtsliberalen, Liberaldemokraten, Christdemokraten und Calvinisten. Alle vier Parteien wurden bei den Wahlen abgestraft. 

Ließe sich das Argument nicht auch umdrehen? Die Wähler der rechtsliberalen VVD oder des "Nieuwe Sociaal Contract" könnten es den Parteivorsitzenden übelnehmen, wenn sie einem radikalen Rechtspopulisten wie Wilders ins Amt des Premiers verhelfen.

In gewisser Weise wiederholt sich die Geschichte gerade: Im Jahr 2010 haben Mark Rutte und seine VVD eine Minderheitsregierung gebildet, gemeinsam mit den Christdemokraten – und mit der parlamentarischen Unterstützung von Wilders, dessen PVV die Regierung tolerierte. In der VVD hat das zu ein paar geringfügigen Kontroversen geführt. Bei den Christdemokraten dagegen hatte die Tolerierung einen extrem spalterischen Effekt, zahlreiche Mitglieder haben sich eindeutig und fundamental dagegen positioniert, mitunter wurde es sehr emotional. Die Partei von Pieter Omtzigt besteht nun aber großteils aus ehemaligen Christdemokraten. Eine mögliche Koalition mit Wilders könnte dort also auch innerparteilich auf Widerstand stoßen.

Wie würde die Öffentlichkeit reagieren? Wäre eine Regierung unter Wilders ein Tabubruch?
Das kommt ganz darauf an, von welcher Öffentlichkeit man spricht. Sicher ist nur, dass das Thema polarisiert. Auf der linken Seite des politischen Spektrums gibt es schon jetzt einen Aufschrei, die ersten Demonstrationen wurden bereits angemeldet. Aber die Linke, breit definiert, vereint auf sich vielleicht ein Drittel der Wählerstimmen. Zwei Drittel entfallen auf zentristische oder rechte Parteien – und in diesem Lager gibt es deutlich weniger Vorbehalte gegen Wilders, wenn nicht sogar offene Unterstützung. Die meisten denken sich offenbar: Wilders hat die Wahl gewonnen, also muss er auch in die Regierung. 

Welche Gründe sehen Sie für Wilders‘ Erfolg?
Ein großer Teil des Wahlkampfes drehte sich um die Migrationspolitik, was offensichtlich dem Wahlziel der radikalen Rechten diente.  Wir müssen auch die allgemeine Normalisierung des rechtsextremen Diskurses und entsprechender Positionen berücksichtigen. Die Mitte-Rechts-Partei VVD hat insbesondere zu diesem Prozess beigetragen. Sie hat versucht, den extremen Rechten den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem sie sich ihren Positionen angenähert hat. Inzwischen ist klar, dass eine solche Strategie vor allem dazu führt, dass die Rechtsextremen legitimiert werden und ihre Unterstützung weiter zunimmt. Viele Wähler bevorzugen das rechtsradikale Original gegenüber der Mainstream-Kopie.

Warum haben sich die Niederländer nicht abschrecken lassen von Wilders und seinen teils verfassungswidrigen Positionen?
Er gab sich, wenigstens rhetorisch, viel kompromissbereiter als in der Vergangenheit, gerade bei Dingen wie dem Moschee- oder Koranverbot. Lieber sprach er über hohe Lebenshaltungskosten – das war neben der Migration, über die Wilders natürlich auch viel sprach, das bestimmende Thema dieses Wahlkampfs. Anders als früher forderte er auch keinen EU-Austritt mehr, sondern nur noch ein Referendum über einen EU-Austritt. Hinter diesem gemäßigten Ton stehen aber nicht unbedingt gemäßigte Positionen. Sein Programm ist weitgehend unverändert. Dennoch glaubten viele Wähler wahrscheinlich an seine Mäßigung, die auch in den Medien immer wieder zum Ausdruck kam. Wilders präsentierte sich in der Wahlnacht auch staatsmännisch und versprach, er werde der Premierminister "aller Niederländer" sein. Dazu muss man sagen, dass selbst das, was heute als gemäßigt gilt, vor einigen Jahrzehnten als extrem gegolten hätte.

Wilders‘ Wahlsieg reiht sich ein in eine lange Serie von rechtspopulistischen Erfolgen in ganz Europa. Wie groß ist Ihre Sorge um die EU?
Natürlich hat der Aufstieg von radikalen Rechtspopulisten wie Wilders auch Folgen für die europäische Kooperation und Integration. Ich glaube aber nicht, dass die EU als Idee oder Institution nun plötzlich unmittelbar bedroht ist. Die meisten Rechtspopulisten haben eine ambivalente Haltung zur EU. Es geht ihnen nicht darum, sie in die Luft zu jagen, sondern darum, sie für ihre Zwecke zu nutzen. Etwa zur Eindämmung von Migration. Aber wenn mehr rechtsextreme Nationalisten, die supranationalen Institutionen naturgemäß misstrauisch gegenüberstehen, in die Regierung gewählt werden, wird sich dies natürlich auf den Verlauf der europäischen Integration auswirken.

Aber in der Vergangenheit, das erwähnten Sie gerade selbst, forderte Wilders einen EU-Austritt der Niederlande. Ist das vergleichbar mit seinen islamfeindlichen Positionen, an denen er vermutlich immer noch festhält, die er aber kaum noch öffentlich vertritt, weil er damit in den Niederlanden keine Wahlen gewinnen kann?
Bis zu einem gewissen Grad, denn er hat offensichtlich seinen Ton in dieser Frage geändert. Dennoch sind der Islam und die Einwanderung zentrale Themen in seinem politischen Projekt, und das wird auch so bleiben. Das Thema EU scheint in einem offensichtlichen strategischen Sinn verwendet worden zu sein, wenn man bedenkt, wie viel Aufmerksamkeit die PVV diesem Thema in ihrem Wahlprogramm von 2012 gewidmet hat, und wie wenig jetzt. In der niederländischen Gesellschaft gibt es keine Mehrheit für einen Austritt aus der EU, also ist die Forderung danach keine Priorität für Wilders. Vielleicht war es sogar nie eine Priorität und war immer nur ein strategisches Instrument.

Die Niederlande gehörten bislang zu den entschiedensten militärischen Unterstützern der Ukraine. Würde eine Regierung unter Geert Wilders diese Politik fortführen? Es gibt nicht wenige Rechtspopulisten, die Russland näherstehen als der Ukraine. 
Wilders hat sich ganz klar von Putin distanziert, aber radikale Rechtspopulisten neigen naturgemäß dazu, Staatsausgaben in erster Linie für ihr "eigenes Volk" zu verwenden.

Die Koalitionsverhandlungen wird voraussichtlich lange dauern, es bleibt ausreichend Zeit für die Analyse des Wahlergebnisses. Was lässt sich schon jetzt daraus lernen?
Es ist wichtig zu verstehen, dass die Rechtspopulisten im Kern illiberal sind, ihre Parteien sind nicht "normal". Sie haben eine enge Vorstellung davon, wer zu "dem Volk" gehört, an das sie sich wenden, und definieren diese Gruppe hauptsächlich durch den Ausschluss von Teilen der Bevölkerung, nicht zuletzt von Einwanderern und ethnischen Minderheiten. Das aber steht im Widerspruch zu liberalen demokratischen Normen, die auf der Idee beruhen, dass die Gesellschaft von Natur aus pluralistisch ist. Politik, Medien und Wissenschaft müssen das immer wieder betonen, sie tragen eine Verantwortung dafür. Geschieht das nicht, schreitet die Normalisierung von Rechtsextremen voran und sie werden nur immer erfolgreicher werden.