Zu seinen besten TV-Zeiten stand Wolodymyr Selenskyj vor der Kamera und machte Witze über Wladimir Putin und seine angebliche Geliebte, die Eiskunstläuferin Alina Kabajewa. Damals hatte Russland der Ukraine gerade die Krim entrissen, doch die große Invasion war noch weit weg. Jetzt, neun Jahre später, macht der frühere Entertainer nur noch manchmal Späße. Vor einigen Monaten etwa als Gast von US-TV-Ikone David Letterman: "Was gibt es Neues?" "Russland kämpft gegen die Nato." "Und wie ist der Stand?" "Die Russen haben zehntausende Soldaten verloren, ein Großteil der Ausrüstung ist beschädigt." "Und was ist mit der Nato?" "Die ist noch gar nicht da."
Tausche Bart gegen Schalk
Rein äußerlich gibt es einen Vorkriegs-Wolodymyr Selenskyj und den Kriegspräsidenten Wolodymyr Selenskyj: Der erste federte in gut geschnittenen Anzügen auf Bühnen herum, mit einer Mimik, die nur den Schalk zu kennen schien. Der zweite sitzt in ungünstig ausgeleuchteten Räumen und trägt olivgrüne T-Shirts. Sein Gesicht ist umrahmt von einem Bart, den er gegen den Schalk getauscht hat.
Nur selten ist eine öffentliche Figur angemessener und auffälliger in eine neue Rolle geschlüpft als Wolodymyr Selenskyj nach der Invasion Russlands in die Ukraine. Bei einem Barack Obama fiel erst kurz vor Ende seiner Amtszeit auf, wie grau der US-Präsident plötzlich war. Auch bei Wladimir Putin hat der Krieg Spuren im Gesicht hinterlassen, ihn aber zehrt der Stress nicht aus, er macht ihn fülliger, freundlich ausgedrückt.
Selenskyj hat sich nie versteckt
Selenskyjs möglicherweise größte Tat war, dass er sich nie versteckt hat. Der Profi in Sachen Außendarstellung zeichnete unmittelbar nach Kriegsbeginn, die Bomben fielen auf die Hauptstadt, am späten Abend Videos auf, nicht nur um den Westen um Beistand und Waffen zu bitten, sondern vor allem um sich seinen Landsleuten zu zeigen und ihnen Mut zu machen. Die ganze Welt konnte ihn dabei beobachten, wie er über Nacht ins kälteste aller Wasser geworfen wurde – und dabei, wie er nicht nur nicht unterging, sondern von Tag zu Tag in die Verantwortung wuchs.