Zeugnistag in Berlin. Wenn der britische "Economist" alle paar Jahre sein Dossier über Deutschland veröffentlicht, dann hält so mancher Verantwortlicher den Atem an. Denn schon oft haben die Experten des respektierten Wochenmagazins deutsches Glück und deutsches Versagen lange vor den einheimischen Fachleuten erkannt. Am Freitag war es wieder soweit. Dieses Mal ist es vor allem ein Zeugnis für die Bundeskanzlerin, das die Briten ausgestellt haben.
Wenn sie es ernst nimmt, kann Angela Merkel sich kaum entspannt in die Sommerferien zurückziehen. Will man im Zeugnisduktus bleiben, lautet das Urteil zusammengefasst so: Trotz ordentlicher Leistungen ist die Versetzung gefährdet. Oder, wie "Economist"-Wirtschaftschefin Zannie Minton Beddoes die Rolle Merkels zusammenfasst: "Sie spielt nicht nur die Rolle nicht, die sie spielen müsste", urteilt sie, "sie spielt sogar oft eine Rolle, die es noch schlimmer macht." Eine Kanzlerin, die wirklich in die Geschichtsbücher strebe, müsste gerade mit der Eurokrise anders umgehen - "viel mutiger". Merkel solle endlich Führung in Europa übernehmen und ihren eigenen Landsleuten reinen Wein einschenken, verlangt die Autorin.
Mehr Angst vor Inflation als vor Krebs
Wochenlang ist Minton Beddoes durchs Land gereist. In Osterath bei Düsseldorf staunte sie, wie sich die Bürger gegen eines der Umspannwerke wehren, ohne das die Energiewende nicht funktioniert. In der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln entdeckte sie die Fähigkeit der Deutschen auf ihre Probleme in Sachen Integration mit Lösungen zu reagieren. Und als sie in Baden-Württemberg neckarabwärts reiste, fand sie viele Belege für die Stärke des deutschen Mittelstands.
Überall fragte sie die Menschen, was sie über die Eurokrise denken - überall die gleiche Antwort: "Ich habe Angst um meine Ersparnisse". Dann bekam sie eine Allensbach-Umfrage auf den Tisch, derzufolge die Deutschen größere Angst vor Inflation haben, als davor, an Krebs zu erkranken. "Es war mir nicht klar, wie tief dieses Thema bei fast jedem Deutschen verankert ist", erzählt die Journalistin. Sie kam zu dem Schluss, dass es eine deutsche Besessenheit von Stabilität gibt, die sie völlig berechtigt findet ("denn die Deutschen hatten in ihrer Geschichte wenig davon"). Aber diese Besessenheit würde die Deutschen heute oft zu fatalen Schlüssen und Schritten verleiten: weil es an Führung fehle, da Merkel eher auf Stimmungen blicke, als auf das langfristige Wohl Europas in den Blick zu nehmen.
Seit der Finanzkrise gerät nämlich die deutsche Stabilitätsbesessenheit laut Minton Beddoes' Analyse ständig mit zwei anderen deutschen Obsessionen in Konflikt. Da ist einerseits der Wunsch der Deutschen, gute Europäer zu sein. Da ist andererseits die Angst der Deutschen, sich selbst als Führungsmacht zu sehen. "Deutschland muss sich aber jetzt entscheiden", sagt Minton Beddoes.
Europas Entwicklung hängt an Deutschland
Wiederholt hat ihr Magazin die Rolle Merkels in einer beißend scharfen Illustration zusammengefasst. Einmal zeigte es die Kanzlerin im Hosenanzug auf einem Steg stehen, im Wasser kämpfen einige Ertrinkende um ihr Leben. Während diese um Hilfe rufen, wendet sich Merkel mit einer Schautafel an sie: "Einführung in die Kraultechnik". In einer anderen Zeichnung sieht man einen Dampfer namens "Weltwirtschaft", der weit unter der Wasseroberfläche dem Meeresboden entgegentaumelt und dessen Mannschaft ein letztes flehentliches Ansinnen an die Kapitänin richtet: "Frau Merkel, dürfen wir jetzt endlich die Maschinen anwerfen?"
Damals ging es um Konjunkturanreize, denen sich die Kanzlerin lange verweigert hat. Jetzt zeigt die Redaktion Merkel als Hauptfigur in einer Adaption von Caspar David Friedrichs berühmtem Bild "Der Wanderer über dem Nebelmeer": Die Kanzlerin über den Wolken, nur ein paar Europafahnen ragen heraus, ist es ein Abgrund, an dem sie steht oder der Platz einer Gebieterin? "Europas zaudernde Vormacht", steht darunter. "Wenn Sie heute nach Washington oder Peking fahren, dann ist die Frage, wohin Europa treibt, gleichbedeutend mit der Frage wohin Deutschland geht", sagt Minton Beddoes. "Nur in Deutschland macht man sich das nicht klar." In Deutschland denke man immer noch, man könne sich wie eine Art größere Schweiz verhalten und an den Problemen vorbeimogeln, um die anderen Länder nicht gegen sich aufzubringen, so die Analyse. Dabei werde gerade dieses Verhalten dazu führen, dass Deutschland am Pranger steht: "Wenn alles auseinanderbricht, wird man mit dem Finger auf Deutschland und Merkel zeigen", prophezeit die Journalistin.
Aufräumen mit den Lebenslügen
Wenn allerdings Deutschland wirklich führen wollte, müsste Merkel im Innern mit den Lebenslügen aufräumen, die sich im Zuge der Eurokrise festgesetzt haben. Erstens: "Den Ländern im Süden geht es schlecht, weil sie jahrelang Geld verschwendet haben." Zweitens: "Uns geht es gut, weil wir den Gürtel enger geschnallt haben". Drittens: "Die anderen brauchen nur zu werden wie wir, dann sind die Probleme vorbei."

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Erstens sei die Schuldenkrise nicht nur durch Verschwendung entstanden und Kreditblasen wie in Spanien und anderswo zudem hauptsächlich durch sorglose deutsche Banken finanziert worden. Zweitens profitiere Deutschland nicht nur von seinen Reformen (die, das gibt Minton Beddoes zu, mutig gewesen seien), sondern ebenso stark vom Glück und vom schwachen Euro, der seine Exportmaschine befeuere. Drittens sei es eine Illusion, dass alle Länder exportstarke Industrienationen mit Außenhandelsüberschüssen wie Deutschland würden: "Wohin wollen Sie die ganzen Waren dann exportieren?", fragt die Expertin. Der größte Fehler aber sei es, dass Merkel dem verbreiteten Glauben Vorschub leiste, bei der Eurorettung gehe es darum, dass deutsche Steuerzahler für andere zahlen.
Wasser auf die Mühlen der Opposition?
Anstatt über die anderen zu klagen, sollte Deutschland lieber bei sich selbst beginnen, sagt Beddoes: "Deutschland ist nicht etwa gewachsen, weil es an Produktivität zugelegt hat, sondern weil es die Einkommen der Leute in die Schraubzwinge genommen hat." Außerdem sei der Wohlstand in Deutschland erschreckend ungleich verteilt, das deutsche Beschäftigungswunder stütze sich zu einem großen Teil auf unauskömmliche Niedriglohnjobs. Die Regierung müsste mehr für Konsum und Einkommen tun, die Niedriglohnempfänger besser qualifizieren, die Einwanderer besser integrieren (wobei sie bei diesem Thema Anfangserfolge sieht). Außerdem solle das Land die Niedrigzinsen für Investitionen nutzen.
Das alles könnte Wasser auf die Mühlen von Merkels Herausforderer Peer Steinbrück (SPD) und seinen Verbündeten sein, würde der "Economist" nicht gleichzeitig weitere Strukturreformen verlangen, etwa völlige Dienstleistungsfreiheit in Europa. "Die Kanzlerin verlangt in Europa zwar ständig Reformen, aber in Deutschland selbst hat es in den vergangenen Jahren kaum welche gegeben, wenn man mal davon absieht, dass Langstreckenbusse auf den Straßen erlaubt wurden". Deutschland werde als Vorbild wahrgenommen, also müsse es sich vorbildlich verhalten.
Streng, aber wohlwollend
Trotz allem hat der "Economist" Hoffnung für Deutschland. 1999 hatte das Magazin Deutschland als den "kranken Mann Europas" beschrieben, 2002 hatten die Briten gewarnt: "Ein Riese geht in die Knie" und geschrieben: "Wenn das Leben zu angenehm ist, gibt es wenig Bereitschaft für einen radikalen Wandel". 2006 hat Noch-Kanzler Gerhard Schröder das britische Heft stolz im Wahlkampf herumgezeigt. "Deutschlands überraschende Wirtschaft", hatten die Londoner geschrieben und als erste erkannt, was die Reformen bedeuten.
2010 hieß es dann über Deutschland: "Älter und weiser". Man sieht, die Briten sind streng, aber wohlwollend bei der Notenvergabe. Auch dieses Mal, sagt Zannie Minton Beddoes, stelle sie sich gern vor, 2020 in ein gestärktes Europa mit deutscher Führungskraft zurückzukehren. Außerdem habe sie bei ihren Reisen entdeckt, wie viel Verständnis sie für die deutschen Sorgen habe. Wer so viel Sympathie hat, darf auch ehrlich sein.