"Hammelsprung" vor Sommerpause "Die AfD hat die Geschäftsordnung und Gepflogenheiten des Parlaments missbraucht"

Der sogenannte Hammelsprung ist seit Langem ein fester Bestandteil des parlamentarischen Betriebs. Hier im Bild: Eine Hammelsprung-Abstimmung im Juli 2022, die zum Ziel hatte, Bundeskanzler Scholz zu einer Aktuellen Stunde im Deutschen Bundestag herbeizuzitieren.
Der sogenannte Hammelsprung ist seit Langem ein fester Bestandteil des parlamentarischen Betriebs. Hier im Bild: Eine Hammelsprung-Abstimmung im Juli 2022, die zum Ziel hatte, Bundeskanzler Scholz zu einer Aktuellen Stunde im Deutschen Bundestag herbeizuzitieren.
© Bernd von Jutrczenka/ / Picture Alliance
Der AfD ist es wiederholt gelungen, die Ampel-Koalition durch einen "Hammelsprung" düpiert in die Sommerpause zu schicken. Was ist schiefgelaufen? 

Die Ferien sind zum Greifen nah, die Bundestagsabgeordneten urlaubsreif – und die AfD erpicht darauf, die Gemengelage auszunutzen und der Ampel-Koalition noch einen Denkzettel zu verpassen. Hat geklappt.

Der Bundestag hat sich am Freitagnachmittag beschlussunfähig in die Sommerpause verabschiedet. Nach einem sogenannten Hammelsprung auf Antrag der AfD konnte das Energieeffizienzgesetz nicht mehr ins Ziel gebracht werden: Es waren nicht genügend Abgeordnete im Parlament anwesend. Für die Fraktionen der Ampel-Regierung stellte der Vorgang die peinliche Schlusspointe einer ohnehin verkorksten Woche dar.

Darauf hatte es die AfD angelegt. Sie bemüht den Verfahrenstrick des Öfteren, um den Parlamentarismus insgesamt vorzuführen. Es war insofern ein erwartbares Manöver. Was ist schiefgelaufen?

Zunächst zum Verständnis: Beim Hammelsprung geht es darum, die Beschlussfähigkeit des Bundestags festzustellen. Diese ist laut Geschäftsordnung nur dann gegeben, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder anwesend sind. Dafür sind aktuell mindestens 369 Abgeordnete nötig. Die AfD-Fraktion hatte am Freitagnachmittag angezweifelt, dass dieses Quorum erreicht wird, weshalb die SPD-Bundestagsvizepräsidentin Aydan Özoguz als Sitzungsleiterin den Hammelsprung anordnete.

Dabei verlassen die Abgeordneten den Sitzungssaal und kehren durch verschiedene Türen zurück, die mit "Ja", "Nein" und "Enthaltung" markiert sind. Schriftführer an den Türen zählen die Stimmen respektive die Abgeordneten – wie beim Schäfchenzählen. Das Ergebnis vom Freitag: Nur 241 Abgeordnete waren noch unter der Reichstagskuppel versammelt, zu wenige, um das Gesetz zu beschließen. 

Eigentlich hätte die Zahl der Anwesenden noch höher gelegen, jedoch verweigerten sich viele AfD-Abgeordnete der Zählung, indem sie durch einen Seiteneingang ins Plenum zurückkehrten. "Nicht gerade ein parlamentarisches Verhalten", monierte Sitzungsleiterin Özoguz – aber Garantie dafür, dass der AfD-Plan aufging: Am letzten Tagesordnungspunkt des letzten Sitzungstages vor der Sommerpause ist der Bundestag beschlussunfähig. Und die Ampel-Fraktionen düpiert: Zu viele ihrer Abgeordneten waren offenbar schon abgereist, statt das Gesetzgebungsverfahren mit ihrer Anwesenheit abzusichern. 

SPD-Politikerin Ortleb kritisiert Vorgehen der AfD

Die AfD hat gewissermaßen ein Abo darauf, den Hammelsprung im passenden Moment für ihre Zwecke zu nutzen. Schon vor der Sommerpause 2022, in der vorletzten Sitzung nachts um halb zwei, hatte sie ein ähnliches Theater veranstaltet. Die Ampel-Fraktionen hätten ahnen können, dass die Rechtspopulisten wiederholt versucht sein könnten, sie im Schlussspurt vorzuführen.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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"Die AfD hat die Geschäftsordnung und Gepflogenheiten des Parlaments missbraucht, um nach außen das Bild zu vermitteln, der Bundestag würde nichts schaffen. Das Gegenteil ist der Fall", sagt Josephine Ortleb zum stern. Die Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion betont, dass die Regierungsparteien Hammelsprünge in der Regel gewinnen würden. "Unsere Fraktion arbeitet im Schichtsystem, um die Beschlussfähigkeit zu gewährleisten", erklärt Ortleb. Sie nennt es "ärgerlich", dass es am Freitag dennoch nicht gereicht hat. Zur Wahrheit gehöre aber auch, dass auch Abgeordnete aus der Opposition nicht mehr anwesend gewesen seien. Außerdem habe sich ein Großteil der AfD nicht mitzählen lassen. "So ist es fast unmöglich, die Beschlussfähigkeit im Bundestag zu gewährleisten", sagt Ortleb. "Dieser Umstand wurde ausgenutzt." 

Zu jenen parlamentarischen Gepflogenheiten gehört es auch, dass die Geschäftsführer der Fraktionen miteinander vereinbaren, wie viele Abgeordnete in Abstimmungen geschickt werden. Bei den Absprachen werden die jeweiligen Mehrheitsverhältnisse berücksichtigt. Am letzten Tag der Sitzungswoche sind oft weniger Abgeordnete anwesend. Die Beschlussfähigkeit des Bundestags ist trotzdem gewahrt – wenn niemand diese infrage stellt. 

Künftig will man auch für diesen Fall besser gewappnet sein, kündigt Ortleb an. "Wir werden in der SPD-Fraktion nochmals dazu anhalten, als stärkste Kraft in der Regierung und Kanzlerpartei noch mehr Präsenz zu zeigen."   

Zuvor hatte schon Johannes Vogel, Erster Parlamentarische Geschäftsführer der FDP, ein "absolut unparlamentarisches Verhalten" der AfD beklagt. "Die Planer-PGFs (Abkürzung für Parlamentarische Geschäftsführer) der Koalition werden Maßnahmen besprechen, wie wir eine Wiederholung vermeiden können", sagte er "Table.Media".

Vogel beschwichtige, das Energieeffizienzgesetz könne "problemlos" auch im Herbst verabschiedet werden, ein realer Schaden sei somit nicht entstanden. Am Image der Ampel, die in den vergangenen Wochen einen mitunter chaotischen Eindruck hinterlassen hat, dürfte die Schlappe indes nicht spurlos vorbeigegangen sein. 

Bei einem Hammelsprung muss die Koalition Zeit gewinnen  

Neu ist das parlamentarische Instrument des Hammelsprungs nicht. Das Verfahren ist schon 1874 im Reichstag der Kaiserzeit eingeführt worden. Offiziell hat der Begriff zwar nie Einzug in die Geschäftsordnung des Parlaments gefunden, wird aber seit Langem verwendet – laut Bundestagsverwaltung ist er erstmals für das Jahr 1879 verbrieft. 

Seitdem hat es zahlreiche Hammelsprünge gegeben, die den politischen Gegner mitunter ärgern sollten. So verhinderten etwa SPD, Grüne und Linke im Oktober 2012 mit einem Hammelsprung, dass die erste Lesung zum Betreuungsgeld stattfinden konnte. Seinerzeit eine unangenehme Klatsche für die schwarz-gelbe Koalition.

Juli 2020: Helge Braun (M., CDU), Chef des Bundeskanzleramts, und Paul Ziemiak, CDU-Generalsekretär, stehen zusammen mit zahlreichen anderen Bundestagsabgeordneten beim Hammelsprung vor dem Plenarsaal
Juli 2020: Helge Braun (M., CDU), Chef des Bundeskanzleramts, und Paul Ziemiak, CDU-Generalsekretär, stehen zusammen mit zahlreichen anderen Bundestagsabgeordneten beim Hammelsprung vor dem Plenarsaal
© Bernd von Jutrczenka/ / Picture Alliance

Auch bei der Abstimmung zum Kohleausstieg im Juli 2020 kam es zum Hammelsprung. Das Bundestagspräsidium war sich uneins, ob es bei der vorherigen normalen Abstimmung eine Mehrheit für den Gesetzentwurf gegeben hatte (was zuvorderst Anlass für einen Hammelsprung ist). Schlagzeilen produzierte dieser Fall auch, weil die damals geltenden Corona-Regeln bei der Rückkehr der Abgeordneten in den Plenarsaal eher weniger (bis gar nicht) eingehalten wurden.

Bei jedem Hammelsprung gilt es für die Regierungskoalition, das Prozedere möglichst in die Länge zu ziehen. Das Ziel: Zeit gewinnen, sodass anderweitig eingespannte Abgeordnete ins Plenum eilen können, um die Beschlussfähigkeit zu sichern – teils unter engagiertem Einsatz. Die Grünen-Abgeordnete Katharina Beck etwa hatte am Freitag ihr Kleinkind im Schlepptau. "Zu einem Hammelsprung am späteren Freitag nachmittag gehört für manche auch, die Pläne mit den Kleinen anzupassen", schrieb sie auf Twitter. Genutzt hat es nichts: Das notwendige Quorum wurde nicht erreicht, die Sitzung vorzeitig abgebrochen. 

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