Attac-Funktionär Giegold "Gipfel der Scheinheiligkeit"

Welche Ergebnisse sind vom G8-Gipfel zu erwarten? Wie werden die Proteste verlaufen? Hilft Heiligendamm den Globalisierungskritikern, sich zu organisieren und neue Mitglieder zu werben? stern.de sprach mit Attac-Funktionär Sven Giegold.

Bundesinnenminister Schäuble hat Attac in einem Interview "viele Geißlers und wenig Lafontaines" gewünscht. Wen wünschen Sie sich als Fürsprecher?

Am wenigsten Herrn Schäuble. Die Unterstützung des Mannes, der verantwortlich für die Politik von Repressionen und Einschränkungen der Demonstrationsfreiheit ist, haben wir nicht nötig und wollen wir nicht.

Sowohl Herr Schäuble als auch Frau Merkel unterstützen ausdrücklich die friedlichen Demonstranten, die für eine gerechtere Globalisierung kämpfen. Wie sind solche Aussagen zu bewerten?

Es ist immerhin erfreulich, dass Politiker und andere Vertreter der Gesellschaft uns aufgeschlossen gegenüberstehen, die uns vor kurzer Zeit noch für Spinner hielten. Aber von den Komplimenten lassen wir uns nicht einlullen: Dieser G8-Gipfel ist ein Gipfel der Scheinheiligkeit. Den schönen Worten folgen keine Taten. Das ist das Problem.

Versuchen Politiker Attac zu instrumentalisieren?

Tatsächlich gibt es diesen Versuch. Aber noch mal, alles Sympathiekundgebungen für Attac können nicht davon ablenken, in welchem eklatanten Gegensatz Reden und Handeln der Politik stehen. Frau Merkel ist ein gutes Beispiel dafür. International hat sie den Ruf einer Vorkämpferin gegen den Klimawandel. Faktisch ist in Deutschland überhaupt nichts passiert. 28 neue Kohlekraftwerke werden gebaut, es gibt kein Tempolimit auf den Autobahnen und kein ernsthaftes Klimaschutzprogramm.

Worauf wollen Sie beim G8-Gipfel aufmerksam machen?

Die drei Gründungsforderungen von Attac waren und sind die Streichung der Schulden für die ärmsten Länder der Welt, die Schließung der Steueroasen und die Einführung der Besteuerung von Devisentransaktionen, die so genannte Tobin-Steuer. Von da hat sich unsere Agenda auf alle sozial-ökologischen Globalisierungsfolgen erweitert. Wir haben auch schon Erfolge. 18 Länder, darunter Frankreich und Großbritannien, erheben Steuern auf Flugtickets, um damit Krankheiten im Süden zu bekämpfen. Deutschland spuckt nur große Töne. Während etwa Österreich, Frankreich und Belgien die Tobin-Steuer als Ziel beschlossen haben, blockiert Deutschland.

Kritiker sagen, Attac sei durch den G8-Gipfel aus einem Dornröschenschlaf wiedererwacht. Teilen Sie die Einschätzung, dass Heiligendamm ihnen viel Aufmerksamkeit bringt?

Dieser Zusammenhang ist unbestreitbar, und wir freuen uns darüber. Allein im Mai sind 1000 Menschen bei Attac eingetreten. Allerdings waren wir nicht in irgendeinem Schlafzustand. Zu jedem großen internationalen Gipfel werden die Menschen auf uns aufmerksam, egal ob in Genua oder anderswo.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Ist der G8-Gipfel auch eine letzte Chance, bevor Ihre Ziele von anderen politischen Gruppen übernommen oder vereinnahmt werden?

Nein, diese Gefahr gab es nie. Der Grund, dass Attac und andere soziale Bewegungen oder NGOs weiter existieren, sind die globalen Probleme, und die sind ungelöst.

Sven Giegold, 38,

... studierte Ökonomie und Politik in Bremen, Birmingham und Paris. Er ist Mitglied des Koordinierungskreises von Attac Deutschland. Giegolds Arbeitsschwerpunkte sind Fragen der Globalisierung und Umweltschutz.

Wird Attac nur mit friedlichen Mitteln demonstrieren?

Attac hat nie Gewalt angewendet. Wir stehen für eine friedliche und demokratische Protestkultur. Allerdings sprechen wir uns nicht gegen Sitzblockaden aus; ich selbst habe einen Aufruf dazu unterschrieben.

Haben Sie, direkt oder über Dritte, Kontakt zu G8-Gegner, die nicht nur friedlich protestieren wollen?

Wir arbeiten nur in Bündnissen mit Gruppen, die friedlich protestieren. Und wir wissen, dass wir bei manchen extremeren Gruppen unbeliebt sind, weil sie unsere Forderungen nicht weitreichend genug finden und wir uns immer wieder für den friedlichen Protest ausgesprochen haben..

Wo verläuft für Sie die Grenze zwischen friedlich und gewalttätig?

Gewalt kann nur gegen leidensfähige Wesen angewandt werden. In diesem Sinne sind viele Formen der Sachbeschädigung keine Gewalt. Ich betone aber, dass Attac auch keine Sachbeschädigungen begeht und nicht dazu aufruft. Das gilt auch für den zivilen Ungehorsam, der jeweils eine persönliche Gewissensentscheidung ist. Trotzdem: Sitzblockaden sind keine Gewalt.

In Anbetracht der gewaltigen Sicherungsmaßnahmen: Ist das Gleichgewicht zwischen Sicherheit und der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit gefährdet?

In Deutschland erleben wir seit Jahren einen Prozess der Aushöhlung von bürgerlichen Freiheitsrechten. Rund um die G8-Proteste wird das besonders sichtbar. Die Demonstrationsverbote sind das deutlichste Beispiel dafür, aber auch die Verletzung des Briefgeheimnisses, Razzien bei Unbeteiligten und mehr. Die Sicherheitsorgane heizen so die Stimmung auf und tragen zur Eskalation bei. Der Höhepunkt ist sicher das Demonstrationsverbot am Zaun. Das ist vorerst aufgehoben. Nun entscheiden die Gerichte. Es ist das Recht der Demonstrierenden, in Hör- und Sichtweite der Mächtigen ihren Protest zu äußern.

Was wird beim G8-Gipfel unterm Strich rauskommen?

Bei den Protestierenden kommt garantiert etwas heraus. Soziale Bewegungen sind in Deutschland schon jetzt gestärkt, und das sorgt für eine zusätzliche Mobilisierung. Bei den G8-Staaten selbst erwarte ich kleine, mehr symbolische Ergebnisse, die keine echten Folgen haben.

Interview: Christoph M. Schwarzer

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