Aus stern Nr. 04/2005 Der Chor der Hirnwäscher

Abgeordnete müssen einfach nebenher arbeiten, damit sie im Leben stehen, singt auf allen Kanälen die größte denkbare Koalition. Ein Lied der falschen Töne. Aus stern Nr. 04/2005.

Sie haben es schon geschafft. Das Grundgesetz verbogen. Und den freien, nur seinem Gewissen unterworfenen Abgeordneten, Vertreter des ganzen Volkes, zum Nebenerwerbs-Parlamentarier mit privatem Arbeitsvertrag umdefiniert. Wer Volksvertreter wolle, die "im Leben stehen", Unternehmer, Ärzte und Rechtsanwälte, missioniert die größte denkbare Koalition das Volk, wer ein Beamtenparlament ablehne, der müsse einfach den berufstätigen Abgeordneten akzeptieren. Und das irritierte Volk, von braven Medien folgsam hirngepudert, beugt sich der scheinbar zwingenden Logik.

Ich nicht. Sorry. Ich bin Exot. Ich will ein gesetzliches Verbot der Berufstätigkeit von Abgeordneten. Ich lass mich nicht veralbern durch die Debatte über den gläsernen Abgeordneten, den sie unisono gar nicht wollen, oder Meldepflichten für geheime Archive. Ich habe andere Vorstellungen von den Aufgaben des Bundestags, von der Pflicht, der Würde, ja der Ehre, dort dem Land zu dienen. Für mich ist das Mandat kein Job. Und der Job neben dem Mandat ein Anschlag auf das Mandat. Entweder ist der Job gar kein richtiger, dann ist das Tor zu Lobbyismus und Korruption auf-gestoßen. Oder der Job wird vernachlässigt, dann fließt Geld ohne Leistung, was zu jenem Tor führt. Oder das Mandat wird vernachlässigt, was die Demokratie unterspült und Verfassung wie Abgeordnetengesetz verhöhnt.

Die nämlich gehen ganz unzweideutig vom Vollzeit-Abgeordneten im Bundestag aus. Nur damit ist die Höhe der Diäten zu rechtfertigen (7009 Euro plus 3589 Euro steuerfreie Kostenpauschale im Monat), nur damit die überaus luxuriöse Altersversorgung, nur damit die vielen sonstigen Privilegien. Und eben aus diesem Grund hat die vom Bundestag selbst eingesetzte Kommission unter Vorsitz von Rudolf Kissel, ehedem Präsident des Bundesarbeitsgerichts, 1993 bei ihren Reformvorschlägen für die Abgeordnetenversorgung die "Unvereinbarkeit von Erwerbsberuf und Mandat" konstatiert. Dieses glasklare Verdikt wird bis heute ignoriert - und der große, schillernd bunte Thierse-Chor versucht es nun endgültig aus den Hirnen zu singen.

Aber, aber, klingt das Tremolo, der Abgeordnete soll doch im Leben É! Ach ja? Wie steht einer im Leben, wie nimmt er die Realität seiner Wähler wahr, wenn er nicht nur zwei Einkommen hat, sondern womöglich auch noch Anspruch auf drei Altersversorgungen: Polit-Pension, Rente und Betriebsrente? Und: Welchen Sinn hat eine laut Grundgesetz "die Unabhängigkeit sichernde Entschädigung", wenn sich Abgeordnete daneben doch in die Abhängigkeit eines Jobs begeben dürfen? Ja, aber welcher Arzt, welcher Unternehmer wollte seinen Beruf für ein Mandat an den Nagel hängen, hören wir den Chor der Hirnwäscher, sie müssen einfach nebenher É! Pure Propaganda. Sie können gar nicht nebenher. Der Arzt muss seine Praxis abgeben oder aus der Klinik ausscheiden. Der Unternehmer, sofern er Eigentümer ist, einen Geschäftsführer berufen, oder, falls er Manager ist, den Job ruhen lassen. Deshalb sitzen ja auch praktisch keine Ärzte, Unternehmer und Vorstände in den Parlamenten. Und: Die soziale Schieflage der Volksvertretungen ist vor allem Resultat der Personalauswahl der Parteien. Deshalb gibt es nur drei Arbeiter im Bundestag, deshalb sind ein Drittel der Abgeordneten Beamte, deshalb insgesamt 54 Prozent Angehörige des öffentlichen Dienstes und Funktionäre von Parteien oder Verbänden.

Wie steht einer im realen Leben seiner Wähler, wenn er nicht nur zwei Einkommen, sondern auch noch drei Renten hat?

Hier geht es um ganz anderes. Und viel mehr. Um die Qualität von Politik und die Funktionsfähigkeit des Parlaments. Um Nebenerwerbs-Abgeordnete mit Vollzeit-Diäten oder Voll-Parlamentarier ohne Nebeninteressen. Die nicht lügen (müssen), wenn gefragt wird, warum das Plenum wieder mal so leer ist. Die im Bundestag und seinen Ausschüssen sitzen - statt in Kanzleien und Kontoren und damit den Beamten, die nebenher nicht arbeiten dürfen, das Terrain überlassen. Die anstelle anonymer Berater und Beamter jene Gesetze entwerfen oder zumindest verstehen, zu denen sie die Hände heben. Die sich den Küchenkabinetten und Kungelklubs widersetzen, die Parlamentarier und Parlamente als Marionetten und Puppentheater begreifen. Die Regierung und Fraktionsführung auf die Finger schauen. Die im Leben stehen, weil sie sich um das Leben ihrer Wähler in den Wahlkreisen kümmern.

Wer das nicht kann oder will, darf nicht Abgeordneter werden. So einfach ist das. Gewerkschaftsvorsitzende zum Beispiel, die große Apparate zu lenken haben. Oder Verbandsführer, die das Parlament als Vorzimmer begreifen. Oder Anwälte, die als MdBs für ihre Kanzleien werben. Wer Abgeordneter wird, dessen Arbeitsvertrag soll ruhen (ohne Bezüge), bis er in den Beruf zurückkehrt. Nebeneinkünfte etwa aus Vorträgen sind auf 15 Prozent der Diäten zu begrenzen. Für die Fluktuation in der Politik wäre das nur gut. Für die Rückgewinnung von Vertrauen in die Politik unübertrefflich.

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Hans-Ulrich Jörges