Aus stern Nr. 37/2004 Die Spaltung annehmen

Zwei Länder, eine Regierung: Ost und West treiben auseinander. Die Politik muss die Illusion der Einheit begraben - und dem Osten Macht geben.

Die Bundesregierung zählt 14 Mitglieder - einen Minister für Aufbau Ost hat sie nicht. Manfred Stolpe, einziger Ostdeutscher im Kabinett, ist zwar dafür zuständig, doch der Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen führt das nicht im Titel. Die Regierung beschäftigt elf Beratergremien, darunter eine Kommission für Meeresforschung - einen Sachverständigenrat für Aufbau Ost hat sie nicht.

Der Bundestag unterhält 21 Ausschüsse, darunter einen für Sport und einen für Tourismus - einen Ausschuss für Aufbau Ost hat er nicht. Das Parlament leistet sich zudem 41 Gremien für besondere Aufgaben, darunter einen "Beirat zur Auswahl von Themen für die Sonderpostwertzeichen ohne Zuschlag" und einen "Beirat für die grafische Gestaltung der Postwertzeichen" - einen Beirat für die Auswahl von Themen für den Aufbau Ost respektive dessen Gestaltung hat es nicht.

Die Bundestagsfraktion der SPD bildet 27 Arbeitsgruppen - eine für den Aufbau Ost hat sie nicht, das Thema wurde der AG für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen angeklebt. Die Fraktion der CDU/CSU beschickt 28 Arbeitsgruppen - der Aufbau Ost hat bei ihr den Rang wie bei der Konkurrenz: Wurmfortsatz von Verkehr, Bauen und Wohnen. Die Fraktionen von Grünen und FDP kommen auf vier beziehungsweise fünf Arbeitskreise - keiner hat den Aufbau Ost auch nur dem Namen angeleimt.

Dramatik eines Missverständnisses

Die Organisation der Berliner Politik enthüllt die Dramatik jenes Missverständnisses, das die Nation in diesen Wochen jäh aus ihren Illusionen reißt: Die innere Einheit sei im Grunde besiegelt, ihre Vollendung zwangsläufiges Resultat einer Aufholjagd des Ostens, stimuliert mit Milliarden aus dem Westen für Straßen, Schienen, Fabriken und Wohnungen. Der Politikbetrieb West hat das Großthema Ost routiniert zerkaut, geschluckt, verdaut. Ostdeutsche Probleme schrumpfen zu Spiegelstrichen gesamtdeutscher Agenden, ostdeutsche Politiker zu gönnerhaft eingewebten Proporzfiguren ohne Gewicht. Ein Land, eine Politik, eine Regierung, lautet die Fiktion, die nun unter dem Druck der Proteste im Osten zerbricht.

Zwei Länder, zwei Konzepte, eine Regierung; das ist die Konsequenz, die daraus zu ziehen ist. Seit 1997 fällt der Osten wieder zurück gegenüber dem Westen; Junge, Bewegliche und Starke suchen ihr Heil im Westen; Alte, Gehandicapte und Chancenlose bleiben zurück in blutenden Landschaften. Einheitliche Gesetze, von westdeutschen Politikern mit westdeutschen Erfahrungen für Westdeutsche entworfen, sind nicht nur untauglich für den verödenden und verzweifelnden Osten, sie befeuern auch noch dessen Krise.

Hartz IV ist das Symbol dafür: Wo beim besten Willen keine Arbeit zu finden ist, erscheint die Pression des Staates (West) als kaltschnäuzige Bedrohung der Existenz (Ost). Im 15. Jahr der Einheit teilte die Abstimmung über Hartz IV den Bundesrat erstmals entlang der alten Grenze: Ost geschlossen gegen West. Ein Fanal, das der Westen sogleich als politischen Betriebsunfall verdrängte. Es war ein Fanal der Spaltung, des Aufbrechens der Einheit insgesamt: Währung, Kultur und Sprache halten die Nation zusammen - politisch, wirtschaftlich und sozial aber zerfällt sie in zwei Länder. Dem demokratischen System fühlt sich bestenfalls noch die Hälfte der Ostdeutschen verbunden, die PDS zertrümmert lustvoll das westliche Parteiensystem, vom Tarifsystem West haben sich 85 Prozent der Ost-Firmen abgenabelt. Aus der schematischen Übernahme des Rechtssystems West wollen sich die Ost-Länder verabschieden.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

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Ins Kabinett gehört ein Ost-Minister mit Vetorecht - als Vizekanzler

Wer die Einheit will, lautet die paradox anmutende Erkenntnis, muss die Spaltung annehmen. Das hätte, neben einer ausgeklügelt privilegierten Sonderwirtschaftszone Ost, umwälzende Folgen für das Regieren in Berlin: einen machtvollen Minister für Aufbau Ost mit Vetorecht im Kabinett zum Beispiel, am besten im Range eines (zweiten) Vizekanzlers; einen Kabinettsausschuss für den Osten, dem die Minister für Aufbau, Wirtschaft, Arbeit, Finanzen, Innen, Forschung und Familie angehören; einen Sachverständigenrat Ost, der jährlich Bericht erstattet und Empfehlungen vorlegt; Ausschüsse für den Aufbau Ost in Bundestag und Fraktionen; Gesetze und Verordnungen, die nur im Westen, nur im Osten oder jeweils differenziert gelten; einen politischen Akkord, wonach gegen das Votum aller neuen Länder im Bundesrat nichts für sie beschlossen werden darf.

Dies dem perplexen Westen zu vermitteln wäre eine schöne Aufgabe für die Kanzlerkandidatin aus dem Osten.

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Hans-Ulrich Jörges