AUSLÄNDER ...und was wird aus uns?

Die Parteien streiten um das richtige Zuwanderungskonzept, um Ausländerzahlen, Integration, die Zukunft des Standorts Deutschland. Aber Eingliederung ist keine Einbahnstraße. Viele hier lebende Türken bleiben auch nach Jahren im Abseits. Aus stern Nr. 28/2001.

Die Parteien streiten um das richtige Zuwanderungskonzept, um Ausländerzahlen, Integration, die Zukunft des Standorts Deutschland. Aber Eingliederung ist keine Einbahnstraße. Viele hier lebende Türken bleiben auch nach Jahren im Abseits – in Berlin und überall in der Republik

Kinder überall, sie schreien und rempeln, tollen unter Ballkleidern, stören opulente Schwestern beim Männergucken, piesacken die Musiker und Hochzeitsgäste. Nur die jüngsten der künftigen Rentenzahler schlummern friedlich zwischen den Resten des Büfetts. Ein Tusch. Die Frauen trällern das traditionelle »Lilili«. Es regnet Geld und Gold. Der Bruder zurrt der Braut den roten Seidenknoten um die Hüften. Der Bräutigam wird ihn im Morgengrauen lösen, kurz darauf wird sie keine Jungfrau mehr sein. Vier graffitiverschmierte Treppen hoch über dem Kreuzberger Oranienplatz entsteht, was das Land fürs Renten- und Sozialsystem derzeit gut gebrauchen kann: eine deutsche Familie türkischer Abstammung.

2,4 Millionen Türken leben hier

2,4 Millionen Türken leben in der Bundesrepublik. Nettoeinkommen: 28,4 Milliarden Mark. Türken sparen: 6,4 Milliarden legen sie im Jahr zurück. Türken bauen und kaufen: 96000 sind Hauseigentümer. Türken spucken in die Hände – ihr Beitrag zum deutschen Bruttosozialprodukt: 78,6 Milliarden Mark. Das ist rund ein Drittel des Bruttosozialprodukts von Griechenland. So sind die Zahlen des Zentrums für Türkeistudien der Universität Essen. Sie hören sich gut an. Aber diese nicht: Ein Viertel aller Türken in Deutschland ist arbeitslos. In Berlin sind es sogar 42 Prozent. In vielen Familien, klagt Alisan Genç vom Türkischen Bund in Berlin Brandenburg, »wird Erwerbstätigkeit nicht mehr erlebt«.

Berlin ist dabei kein Sonderfall, es ist das Beispiel für die Zukunft. »In den nächsten zehn Jahren«, sagt der Leiter des Berliner Arbeitsamtes, Klaus Clausnitzer, »fallen in Deutschland 50 Prozent der nicht qualifizierten Arbeitsplätze weg.« Verlierer werden dann überall die Türken sein. Oft immer noch rückwärts gewandt, verstoßen sie gegen das Grundprinzip erfolgreicher Einwanderung: lernen, aufsteigen, aufgehen in der Gesellschaft, damit der Jüngste einmal Bundeskanzler wird. Nicht der Pass, die Ausbildung macht heute den Arbeitnehmer. Schon jetzt waren bei der Green-Card-Regelung 800 Türken dabei. »In der IT-Branche«, sagt Clausnitzer, »spricht man auch in der Türkei englisch.« In vielen Straßen Kreuzbergs spricht man nicht einmal deutsch.

»Checkpoint Ali«

»Checkpoint Ali« nennen Berliner die Hochhauspassage am Kottbusser Tor, das von Dönerbuden gesäumte Portal zu Türkisch-Kreuzberg. Einst für großspurige Autobahn- und Neubaupläne entmietet und dann dem Verfall anheim gegeben, wurde das Viertel schließlich Gastarbeitern zur vorübergehenden Nutzung überlassen. So erblühte in Altberliner Straßen der Orient mit der Fleischerei Munzur Gidai, Körner und Nüsse Smyrna Kuruyemis, Güler-Waschmaschinen und Güney-Friseur, Pumuk, Emlak und Zirat-Bank.

Die osmanischen Grossfamilien bilden heute das Rückgrat des Viertels, einige haben ihre Wohnblocks gekauft, frisch verputzt und durchsaniert. Ganze Häuserzeilen, Lokale und Fußballmannschaften (zwanzig allein in Kreuzberg) sortieren sich nach Herkunftsorten der Bewohner. Samsun liegt am Görlitzer Bahnhof, die Stadt Hinis beginnt am Mariannenplatz, Trabzon am Schlesischen Tor. Auch nachts sind hier die Straßen sicher.

»Über mir die Möwe, doch meine Hände sind kalt in der Gischt...« Der Lyriker im Kellercafé »Schwarze Kunst« lauscht seinen Versen nach, strafft sich, ruft: »Ich widme diese Zeilen den Freunden in den Gefäng- nissen der Heimat.« Der Applaus läuft in Gemurmel aus. Bei Kichererbsen, Raki und dem Klang der Langhalslaute spinnen sich türkische Intellektuelle in einen Kokon aus Wehmut.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Aber die Gastarbeiter hängen längst nebenan im Kreuzberg-Museum. Stolz waren sie damals, die Mütter und Väter, die in den sechziger Jahren im Atelier Mathesie für ein Foto posierten. Tausende alter Negative haben die Aussteller gesichtet. Wuchtige Bärte, toupierte Haare und Schlaghosen, ihres Wertes sichere Arbeiter, die dreinschauen wie Soraya und Ringo Starr. So war die Zeit. Ein paar Jahre sollte sie dauern. Und es wurde ein ganzes Leben Heimweh daraus.

Heute leuchtet die Sonne

Heute leuchtet die Sonne der Ägäis im Solarium Anadolu an der nächsten Ecke. Gebräunte Schönheit ist das Wunschbild der herangewachsenen Hinterhofkinder. Sie sind schick, sexy und fit for fun. Während Lehrer und Eltern über Kopftücher streiten, tragen grazile Mädchen die knöchellangen Kleider hauteng. Perfektes Make-up, schwere Wimpern, Lidschatten über schwarzen Augen, Plateausohlen und Piercing, das hochgesteckte Nofretete-Haar unter dem Kopftuch gehört zum Kreuzberger Vanity Fair.

Berauscht von Video und Werbung, die schnellen Erfolg ohne Eifer versprechen, konzentrieren sich Türken der Zlatko-Generation vor allem auf die Ausbildung von Muskeln. Aber die sind nur noch in der Disco gefragt. Der Arbeitsmarkt braucht Wissen und Geschick – und 67 Prozent der arbeitslosen Türken haben keinen Hauptschulabschluss.

Ausländer stellen neun Prozent der Bevölkerung, aber steuern nur fünf Prozent zum Bruttosozialprodukt bei, hat der Ökonom Hans Dietrich von Loeffelholz vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen errechnet. Der Gesellschaft entgehen dadurch jährlich bis zu 40 Milliarden Mark an Steuern und Beiträgen. Sprachförderung, Bildung und arbeitsmarktspolitische Investitionen, rechnet Loeffelholz vor, würden bis zu 27 Milliarden Mark kosten. Blieben 13 Milliarde Mark Gewinn. Integration zahlt sich aus. Doch da, wo sie beginnt, im Krabbelalter, in Kindergärten, in Schulen, in Lehre und Studium, fehlt es an Geld und Ideen.

In der Fichtelgebirgsschule am Görlitzer Ufer ist jetzt die vierte Türkengeneration mit der Schultüte eingerückt. »Sie sind lieb und zum Knuddeln, aber schon fast chancenlos«, bedauert Rektorin Annette Spieler: »Diese Kinder können fast gar kein Deutsch mehr.« Lehrer klagen über Abc-Schützen, die keine Stifte führen können.

»Die Kinder wachsen in einer anregungsarmen Umgebung auf«, erklärt der Schulpsychologe Professor Ali Uçer. »In der Türkei spielten ihre Eltern, als sie klein waren, mit Lämmern, kletterten auf Bäume und kneteten mit Matsch. Niemand brauchte Spielzeug.« In Berlin würden die Rangen vor dem Fernseher geparkt, damit sie auf der Straße keinen Unfug anstellen. Wenn sie dann eingeschult würden, könnten sie oft nicht einmal eine Schere halten. »Diese Kinder werden nicht in eine industrielle Gesellschaft hinein erzogen.«

Warum in den Kindergarten?

Wozu sollen die Kleinen in den Kindergarten, wenn Mama doch ohnehin zu Hause ist? Außerdem: Dort sprechen die anderen auch nur türkisch. Die deutschen Nachbarn, grün und alternativ, schicken ihren Nachwuchs zu Montessori und den Anthroposophen. Nur Integrationskindergärten für Ausländerkinder sind auch von Deutschen noch gefragt. Hier ist nur die Hälfte der Kinder Ausländer. In den anderen Kreuzberger Kindergärten sind es 80 Prozent. Mehr als 60 Prozent der von Ali Uçer untersuchten Schüler können zu wenig Deutsch, um dem Unterricht zu folgen. Sie werden die ersten Jahre mitgezogen und dann fallen gelassen. Am Ende sind 32 Prozent der Jungen ohne Hauptschulabschluss.

Tatsächlich schneiden in Deutschland aufgewachsene Kinder in der Schule schlechter ab als diejenigen, die später aus der Türkei hinzukommen. Wie damals Kadine Aktas¿, eines von drei türkischen Mädchen in einer Schulklasse in Berlin- Charlottenburg. Mit ihren bunten Kleidern, roten Händen und Perlen im Haar hat sie alle Mitschüler verstört. Da hat die Lehrerin sie auf den Schoß genommen und den anderen erklärt, dass das Henna an ihren Händen nicht abfärbt. Das ist zwei Jahrzehnte her. Sie hatten in ihrer Heimat in Sasarja kein elektrisches Licht, nachts tanzten sie vor dem Lehmhaus und erzählten Geschichten.

Aber federleicht war damals der Sprung über Jahrhunderte. Kadine lief glatt durch die Schule, lernte Arzthelferin und hat jetzt eine Tochter, der sie ihre Chancen nicht mehr bieten kann: eine animierende Kindheit und eine Schulklasse, in der man deutsch spricht. Geschick, Fantasie und Lebenstüchtigkeit, die Kadine spielend erlernt hat, müssen sich Kinder heute nach Lehrplan aneignen. Beschwerlicher als die Reise von Anatolien nach Deutschland ist heute der Weg aus dem Ghetto in die Oberstadt.

Mengenlehre und Deutsch

Kadine Aktas ist eine von 20 türkischen Frauen, die in einem Projekt der Arbeiterwohlfahrt Mütter besuchen, um sie zu Lehrerinnen ihrer Kinder zu machen. Es heißt »Hippy« und wurde für Einwanderer in Israel entwickelt. 20 Minuten am Tag sollen die Mütter anhand von Arbeitsblättern und geometrischen Figuren mit ihrem Kind Motorik, Mengenlehre und Deutsch lernen.

So wie Sadiye Uzun, zwei Kinder, Hausfrau. Vor fünf Jahren hat die Buchhalterin noch in einer Bank in Istanbul gearbeitet, dann hat sie ihren alten Schulkameraden geheiratet, der Elektriker in Berlin ist. Die Wohnung ist modern und aufgeräumt, nichts liegt herum. Wenn Sadiye Uzun deutsch spricht, übersetzt sie konzentriert im Kopf Wort für Wort. Denn in diesen Wänden reden alle türkisch, ihr Mann, die Freundinnen, die Verwandten und der Fernsehapparat. Hippy ist nun ihr Tor zu Deutschland.

Tolles Projekt eigentlich, zwei Jahre alt und hoch gelobt, 160 Mütter bleiben dran, nur die Helferinnen nicht. Nach einem Jahr laufen ihre ABM-Stellen aus. Aber Betreuungen, Sprachschulen, Teerunden sind notwendiger denn je. Nach einer Befragung der Ausländerbeauftragten haben sich 42 Prozent der in Berlin lebenden türkischen Männer eine Frau in der alten Heimat gesucht, 28 Prozent der Frauen dort ihren Mann. Sie erleben Berlin jetzt wie Istanbul, weil der Bäcker, Metzger, Arzt und Apotheker in ihrer Umgebung türkisch spricht. Eine abgeschlossene Welt, die ein Rückzugsgebiet ist vor Anfeindungen und auch vor Herausforderungen.

»Hast du Probleme«

Ghetto sagen die türkischen Kids und meinen West-Coast-Rap. Ihre Bewegungen sind die schwarzer Amerikaner aus den Video-Clips. »Hast du Probleme?« Das ist ihre Anmache. Und wer keine hat, hat schnell Nasenbluten. Denn sie haben reichlich Probleme. »Ich hab keine Akte bei der Polizei«, sagt Bülent. »Noch nicht.« Vor drei Jahren hat seine Hauptschule ihn ins Leben entlassen. 100 Bewerbungen später sitzt er immer noch mit seiner Gang am Nauener Platz im Wedding.

Industriemechaniker wollte er werden, aber wie – mit einer Fünf in Physik? Und sein Kumpel Çem? Kfz-Mechaniker, das wäre es für ihn gewesen. Ausgeträumt ohne Schulabschluss. Zu Hause zetern die Eltern: Putzfrauen, Packer, Metallarbeiter. »Sie begreifen nicht, was hier läuft«, sagt Adem. Was hier läuft, ist so klassisch, dass man es blind herunterbeten kann: Ohne deutsches Umfeld kein gutes Deutsch, ohne gutes Deutsch keine guten Noten, ohne gute Noten keine Arbeit, ohne Arbeit keine Wohnung, kein Auto, keine Heirat. Und ohne Perspektive auch keinen Grund, sich noch an die Spielregeln zu halten. »Wir wissen alle, dass wir irgendwann anfangen werden, Scheiße bauen«, sagt Bülent.

Fatale Genügsamkeit, gefördert von einem Wohlfahrtsstaat, der das Existenzminimum sichert. »Wir müssen großzügig sein bei Ausbildung und Förderung«, fordert die Berliner Ausländerbeauftragte Barbara John, »aber geizig bei der Sozialhilfe.« Barbara Abla (große Schwester), wie Berliner Türken sie nennen, will alle, die keine Arbeit finden, weil sie kein Deutsch können, zum Sprachkurs schicken. Wer nicht hingeht, dem sollen Leistungen gestrichen werden. Die dazu befragten Türken finden es richtig.

Flucht in die Onkelwirtschaft

Sevinç ist 19 und lernt Bürokauffrau. Zwei Fakten haben ihr geholfen, sagt sie. Erstens: Sie ist eine Frau. »Wir Mädchen machen keinen Ärger, sind fleißiger und flexibler. Jungs versteifen sich auf ihren Traumberuf, schreiben drei Bewerbungen und geben auf.« Zweitens: Sie hat sich von der »Kumulus«-Bildungsberatung helfen lassen. Sieben Mitarbeiter besuchen die neunten Klassen, korrigieren Bewerbungen, üben Einstellungsgespräche. Aber viele Jugendliche haben bei Geschwistern miterlebt, was es heißt, abgelehnt zu werden. Deshalb flüchten sie in die Onkelwirtschaft, schrubben Stunden in Betrieben, die irgendwem aus der weit verzweigten Familie gehören. Jobben in Döner- und Gemüseläden. Schwarz, versteht sich. Ohne Sozialversicherung, ohne Rentenanspruch, ohne Zukunft.

Auf jeden legalen Angestellten in den türkischen Betrieben Berlins kommt ein Illegaler, schätzt Atilla Çiftçi, Mitinhaber der Werbeagentur Beys: »Die verdammen sich dazu, für immer auf der untersten Stufe der Gesellschaft zu stehen.« Statt einer Ausbildung das neue Handy, das dicke Auto: finanziert aus dem Vermögen, das die sparsamen Großeltern angehäuft haben. »Bis eine Million Mark auf der hohen Kante ist normal«, sagt Atilla Çiftçi. Das macht die Türken zu einer wichtigen Konsumentengruppe, die der 35-Jährige mit seiner speziell auf sie zugeschnittenen »Ethno«-Werbung anspricht. Warum das Geld nicht in Post-Aktien anlegen, fragt Thomas Gottschalk darin auf Türkisch.

Atilla Çiftçi ist der einzige türkische Mediendesigner, der ausbildet. In seiner Agentur lernen zwei Azubis und ein Praktikant. Er würde mehr aufnehmen, aber das ist bei der Betriebsgröße von zehn Angestellten nicht erlaubt. Nur wenige der 5000 türkischen Betriebe in Berlin beschäftigen Lehrlinge, es fehlen ihnen die Meisterbriefe. Die Handelskammer bietet Kurse an, doch in zwei Jahren wurden nur 120 Ausbilder-Diplome überreicht.

Wirtschaft baut auf den türkischen Mittelstand

Dabei zählen Wirtschaftsexperten auf den türkischen Mittelstand. Dessen Umsatz, verkündet die Unternehmensberatung KPMG, wird in den kommenden zehn Jahren von jetzt 55 auf 190 Milliarden steigen, die Zahl der Selbstständigen wird sich verdoppeln. Denn Türken machen sich schneller selbstständig als Deutsche. Aus Not, aus Risikobereitschaft und weil die Verwandten helfen.

Gut, dass es die Großfamilien gibt. Auch angesichts der Verzweiflung vieler Jugendlicher, die der Schoß der Familie auffängt. Aber auch nicht gut. Denn sie verhindern Mobilität. »Vielleicht gibt es in Süddeutschland Arbeit«, sagt der Familienvater, der sonntags im Tiergarten grillt. 14 Jahre war er bei Siemens, dann wurde der Betriebsteil nach Ostdeutschland verlagert. Nur zwei der fünf Männer in der Verwandtschaft haben noch Arbeit. Aber wer kann wegziehen, wenn 18 Neffen und Nichten um einen herumtoben?

Ein Dutzend der in Berlin empfangbaren Fernsehprogramme berieseln auf Türkisch. Im deutschen Fernsehen kommen muslimische Gebührenzahler ja auch kaum vor. Nur für türkischen Telefonsex wird nachts auf deutschen Privatkanälen geworben. So quetschen die Alten die grellbunten Bilder ihrer Heimat aus der Fern bedienung, und die Jungen tanzen in den Discos zum Türk-Pop ihrer Teenie-Stars, die bei Viva keiner kennt. Radio Metropol sendet rund um die Uhr Türk-Müzik. In den Wortbeiträgen fällt immer wieder ein deutsches Wort: »Arbeitsamt«. Das gibt es auf Türkisch nicht.

»Euer Eisbein, unser Kebab. Immer die alten Klischees.« Coskun Öztec mixt Cocktails, die bunt sind wie sein Leben. Er hat studiert, ist jung und Inhaber der Makabar, in der sich die Interessanten und Schönen um Tufan Akkoç scharen, Schauspieler mit rasiertem Charakterkopf und Coskuns bester Freund.

Auf den Hockern Jazzmusiker, Internetunternehmer, Schriftsteller und Sükran Ezgimen, die Bauchtänzerin, die eine Fabriketagenruine in ein Parkett mit tausend und einem Kleid verwandelt hat. 90 Prozent ihrer Schülerinnen sind Deutsche. Die Cafés der jungen Kreuzberger Türken sind schicke Italiener, französische Bistros und Szenekneipen mit gehobener multikultureller Küche.

Lesben, Transen und mondäne Orientalinnen

Im Oregano rollen türkische Lesben den Teig, braten Kebab im Wok und schieben chinesisches Gemüse auf italienischen Pizzen in den anatolischen Lehmofen. Am Samstag ist Gayhane im SO 36, dem legendären Punk-Club. Behaarte Männerhände berühren einander zärtlich, Dreitagebärte streicheln über kettenbehängte Nacken. Fummel, Leder, posende Pos und Gel in pechschwarzem Haar. Türkische Transen tanzen zu Home-Orientel-Dancefloor. Mayhane ist das Wort für eine traditionelle türkische Bar, und Gayhane ist die brühwarme Attraktion des Berliner Szenelebens.

Das ist Integration in das junge Deutschland, auf das nur die grauen Muskelmänner vom Taekwondo-Verein im Haus nebenan noch drohende Wolfsblicke werfen. Türkische Yuppies steuern derweil ihren BMW in Richtung Kurfürstendamm. Wo früher, als die Disco noch »Dschungel« hieß, Iggy Pop und David Bowie koksten, defilieren mondäne Orientalinnen unter Plastikpalmen. Zu dreistöckigen Pyramiden türmen sich Melonen, Trauben und Ananas im Funkenregen von Wunderkerzen. Flaschenweise Whisky, Wodka, Schampus. Die Männer an den Tischen ordnen ihre Muskelberge neu, die Sängerin, im engen Abendkleid supersexy und direkt aus Istanbul, betritt die Bühne.

Integration, so wirbt die Ausländerbeauftragte Barbara John immer wieder für Geduld, ist ein »Jahrhundertprozess«. Und die türkischen Einwanderer sind gerade erst über das erste Drittel hinaus. »Bir sey Olmaz«, sagt der Türke: Wird schon gut gehen. Hoffentlich.

Kuno Kruse / Ulrike Pütz