Parteiaustritt bei den Grünen Absturz eines Grenzgängers: Boris Palmer ist ein Provokateur, der sich nicht im Griff hat

Boris Palmer senkt den Kopf und hält ein Mikro in der Hand
Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen, verlässt die Grünen 
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Boris Palmer ist gescheitert, weil er die Provokation liebt, aber selbst mit Provokationen nicht umgehen kann. Trotzdem ist sein Parteiaustritt für die Grünen am Ende ein Verlust.

Das Leiden aneinander hat ein Ende: Boris Palmer verlässt die Grünen. Darüber dürfte die Mehrheit der Partei froh sein, weil sie sich schon lange schämte für den Unruhestifter aus Tübingen. Aber auch Palmer wird nichts fehlen, er ist längst seine eigene Marke. Der Verbleib bei den Grünen – seit einem Jahr ohnehin nur noch eine ruhende Mitgliedschaft – sicherte ihm zwar immer noch ein wenig mehr Aufmerksamkeit. Doch wenn er die Auszeit beendet, die er sich nun vorgenommen hat, wird man ihn wieder in die Talkshows und auf Podien einladen, auch ohne Parteibuch.

Boris Palmer ist der klassische Fall eines mutwilligen Grenzgängers. Er liebt die Provokation, legt sie aber immer so an, dass er hinterher sagen kann, er habe es doch ganz anders gemeint, im Zweifel ironisch. So redete er sich einerseits in die Herzen der Talkshow-Macher und Diskussionsrundenveranstalter, die klare Kante lieben, und setzte andererseits auf das Missverständnis als Rettungsring, der ihn in den medialen Stürmen jedes Mal über Wasser hielt. So ist Palmer zum personifizierten Inbegriff einer Debattenkultur geworden, die mit Aufregung um Aufmerksamkeit heischt, um sich dann über die Entgleisten zu empören.

Boris Palmer reagiert cholerisch, wenn er selbst provoziert wird

Boris Palmer ist aber auch der klassische Fall eines Provokateurs, der sich selbst nicht im Griff hat. Er erwartet von anderen, seine Provokationen auszuhalten, reagiert aber cholerisch, wenn er selbst provoziert wird. In Frankfurt wurde er von irgendwelchen Idioten wegen seiner Verwendung des sogenannten N-Wortes als Nazi beschimpft und wehrte sich mit einem grauenhaften Judenstern-Vergleich. Diese Auseinandersetzung war extrem, aber für Palmers kurze Lunte auch exemplarisch.

Es ist respektabel, dass Palmer sich diesmal gar nicht erst die Mühe gemacht hat, Ausreden zu finden. Ein Judenstern-Vergleich eignet sich nicht zur Ironie. Das hat sogar er sofort begriffen. Palmer hat versucht, seinen Ausraster mit seiner familiären Herkunft zu erklären, was nachvollziehbar ist, aber nichts entschuldigt. Es war vielleicht in den vergangenen Jahren eines der größten Probleme Palmers, dass er sich gerne auf eine Art genetische Renitenz berufen hat: Sein Vater Helmut Palmer war in ganz Baden-Württemberg als "Remstal-Rebell" berühmt, protestierte in eigenwilligen Formen, kandidierte häufig für Bürgermeisterämter oder Gemeinderatsmandate, stand aber nie wirklich in politischer Verantwortung. Das ist das, was Boris Palmer von seinem Vater unterscheidet. Ein Oberbürgermeister kann nur sehr bedingt auch ein Rebell sein.

Palmer ist einer der erfolgreichsten Politiker, den die Grünen je hatten

Trotzdem hat in all den Jahren die große Bühne Palmer verführt, auf der er sich allzu oft als Rampensau präsentiert hat. Jene große Bühne, auf die er als Politiker nicht kam, weil mit jeder neuen Provokation Ämter in immer weitere Ferne rückten, für die er als Oberbürgermeister durchaus prädestiniert gewesen wäre, zum Beispiel die Nachfolge von Winfried Kretschmann als Ministerpräsident von Baden-Württemberg. 

Denn das gehört auch zur Person Palmer: Er ist einer der erfolgreichsten Politiker, den die Grünen je hatten. Allen Anfechtungen zum Trotz wurde er als Oberbürgermeister von Tübingen im Herbst 2022 mit absoluter Mehrheit wiedergewählt.

Deshalb liegt eine Tücke des Parteiaustritts für die Grünen dann doch darin, dass Palmer zu einem für sie ungünstigen Zeitpunkt geht, weil er manches Problem der großen Grünen offenlegt: Palmer gilt als umstritten, aber auch als ein Politiker, der Probleme löst, von der Energie- bis zur Corona-Politik. Robert Habeck, Vizekanzler, Wirtschaftsminister und Vorzeigegrüner in Berlin, erweist sich zunehmend als Politiker, der mit jedem Versuch, ein Problem zu lösen, neue Probleme schafft.

Palmer ist im kleinen Tübingen als eine Art Ein-Mann-Volkspartei erfolgreich, während die Grünen im Bund einmal mehr fürchten müssen, aus einer Regierungsbeteiligung wieder als Nischenpartei vorzugehen. Deshalb mögen nun viele erleichtert sein, dass Grüne und Palmer getrennte Wege gehen. Aber mehr hätten sie erreichen können, wenn sie sich irgendwann in der Vergangenheit einmal zusammengerauft hätten.