Boris Palmer bringt das eigentliche Problem auf folgende Formel: "Ich bin verletzt, deswegen hältst Du das Maul."
Der Tübinger Oberbürgermeister und einstige Grünen-Politiker, der nach einem erneuten Verbalausfall für einen Monat die politische Bühne und anschließend seine Partei verlassen hat, ist besorgt um die Debattenkultur in Deutschland. Es zähle nicht mehr das beste Argument, andere Auffassungen würden kaum noch akzeptiert, stattdessen werde billigen Punkten in Talkshows hinterhergejagt. Allein: Was sei damals über ihn hereingebrochen, erinnert sich Palmer, als er gesagt hatte: "Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären"?
Damals: Das war im April 2020, in Deutschland wurden erstmals mehr als 100.000 Corona-Infizierte gezählt. Bis heute scheint Palmer einigermaßen verblüfft darüber zu sein, wie gewaltig die Empörung über seine drastische Wortwahl ausfiel (für die er sich seinerzeit entschuldigte). Hatte er nicht lediglich eine andere Meinung als die Mehrheit vertreten? Für mehr Augenmaß und Eigenverantwortung geworben und weniger "Sicherheitsfanatismus" und "Hundeleinen-Nummern", wie Palmer seine Kritik an den Corona-Auflagen rückblickend verschlagwortet?
Am Montag wähnt sich Palmer jedenfalls in der Mehrheit. Die "Denkfabrik R21" – ein Thinktank für "neue bürgerliche Politik" – hat zur Diskussion in die sächsische Landesvertretung in Berlin geladen. Knapp 20 Podiumsteilnehmerinnen und -teilnehmer beugten sich in mehreren Panels über das Corona-Management, das angesichts von Lockdowns und Kontaktsperren von vielen der Diskutanten als Angriff auf die freiheitlichen Grundrechte empfunden wurde.
Das "Team Grundrechte" ist sich einig
War das restriktive Regierungshandeln ein Dammbruch, eine Blaupause für die nächste Krise? So stellt es die gastgebende "Denkfabrik R21", die unter anderem von dem Historiker und Vorsitzenden der CDU-Grundwertekommission Andreas Rödder und der früheren CDU-Bundesfamilienministerin Katrin Schröder ins Leben gerufen wurde, jedenfalls in den Raum. "Deutschland zwischen Covid und Klima – Grundrechte unter Vorbehalt?", lautet die Fragestellung der Veranstaltung. Zuvor ließ der Thinktank schon auf das "Woke Deutschland" und "Deutschland nach der Ära Merkel" rumdenken – um Debatten anzustoßen, wie es heißt.
Diesmal soll es um Aufarbeitung gehen, die "mit Abstand größten Grundrechteeinschränkungen seit Gründung der Bundesrepublik" dürften nicht einfach ad acta gelegt werden, fordert Ex-Familienministerin Schröder in ihrer Eröffnungsrede. Ihre Losung: Heute versammle sich weder "Team Vorsicht" noch das "Team Augenmaß", den vermeintlichen Gegenspielern bei der Bekämpfung des Coronavirus, sondern das "Team Grundrechte". Schröder schickt damit voraus, woran die Diskussion lahmen wird: Die geladenen Gäste sind – mal mehr, mal weniger – einer Meinung. Sie haben sich während der Pandemie als Kritiker der Maßnahmenpolitik hervorgetan, wie beispielsweise der Virologe Klaus Stöhr oder die Publizistin Thea Dorn. "Wir wurden ja auch ein bisschen danach ausgesucht, dass wir die Kritik teilen", sagt Schriftstellerin Juli Zeh während eines Panels über Konsequenzen für den Rechtsstaat. Was wohl als Scherz gedacht war, erfährt keinen Einspruch.
Entsprechend eindimensional fielen die Diskussionen aus, in denen sich die Teilnehmer vor allem mit einhelliger Kritik an einem angeblich übergriffigen Staat überboten. Vertreter des verschrienen "Team Vorsicht" suchte man vergebens – obwohl die sogenannte Denkfabrik den eigenen Anspruch formuliert, eine "offene Debattenkultur" fördern zu wollen.
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) gehörte zwar nicht zum "Team Vorsicht", sorgte aber für Facette in der Diskussion. Er ist der einzige Teilnehmer, der – abgesehen von Palmer – zu den Hochzeiten der Corona-Pandemie auch politische Verantwortung trug. Es sei eine "furchtbare Situation" gewesen, seinerzeit Entscheidungen treffen zu müssen, sagt Kretschmer. Er plädiert ebenfalls für eine Aufarbeitung des Regierungshandelns, räumt auch Fehler in der Corona-Politik ein. Aber: "Die Politik hat sich nicht versteckt, die Politik hat Verantwortung übernommen", verteidigt sich der CDU-Politiker gegen etwaige Anwürfe.
Michael Kretschmer: "Nicht alles was hinkt, ist ein Vergleich"
Der oft geäußerten Kritik, wonach viele Corona-Maßnahmen einer belastbaren Evidenz entbehrt hätten, teilt der Ministerpräsident nicht bedingungslos. "Für mich war immer die Evidenz in den Krankenhäusern das Entscheidende", sagt Kretschmer. Zu Beginn der Pandemie sei er auch nicht von einem großen Problem ausgegangen. Doch plötzlich habe es im sächsischen Erzgebirgskreis keine freien Intensivbetten mehr gegeben. Ein Erweckungsmoment. Was das Coronavirus mit Klimaschutz zu tun habe, wie das Diskussionsthema suggeriert, leuchtet dem Ministerpräsidenten allerdings nicht ein. "Nicht alles was hinkt, ist ein Vergleich", sagt Kretschmer. Das eine sei eine große Unbekannte gewesen (Corona), das andere (Klimawandel) schon seit Jahrzehnten Schulstoff.
Eine belastbare Antwort soll Kretschmer nicht bekommen. Die sehr theoretischen Diskussionen dazu gingen nicht über ebenso theoretische Auflagen (etwa CO2-Kontingente für jeden Bürger) und leidenschaftliches Grünen-Bashing hinaus, wonach die Partei zusehends in den Alltag der Bürger hineinregieren wolle. Prämisse der Gedankenspiele und Grünen-Generalkritik: Extreme Maßnahmen oder Verbote würden die Gesellschaft spalten und nicht dem eigentlichen Ziel dienen – das hätte ja schon die Corona-Pandemie gezeigt.
Dass Klimaschutz nicht über alles gehe: Da geht Kretschmer mit. Alles weitere muss der Rest der Denkfabrik unter sich ausmachen. Kretschmer muss vorzeitig los. Er hat einen Termin mit Klimaschutzminister Robert Habeck von den Grünen.