Bundespräsident Köhler rennt

Reformen, Reformen, Reformen - Bundespräsident Horst Köhler drückt aufs Tempo. Die Berliner Politik ist not amused, die Bevölkerung liebt seine Querköpfigkeit. stern.de hat Köhler begleitet und der Gretchenfrage nachgespürt: Wie steht es um eine zweite Amtszeit? Köhler kann das selbst entscheiden. So souverän war er noch nie.

Neulich im Bellevue: das Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ist überreicht, schwer ruht das gute Stück in der Schatulle. Gleich müsste der Schampus kommen. Jetzt wäre Zeit für eine angemessene Geste der Herzlichkeit, nicht wahr? Die hat er drauf, der Präsident, mit lockerer Eleganz, da kennt er sich aus.

Eine Umarmung böte sich an - voilà, was denn sonst? -, da hebt Jean-Claude Trichet, Präsident der Europäischen Zentralbank und frisch dekoriert, schon mal den rechten Ellenbogen auf Schulterhöhe.

Horst Köhler ist perplex. Damit hat er nicht gerechnet. Seelisch hatte er sich schon auf einen schlichten Händedruck vorbereitet. Für einen Sekundenbruchteil entsteht ein Koordinationswirrwarr unter den beiden. Dann liegen sie sich doch noch in den Armen, Köhler, Trichet. Der Bundespräsident strahlt und die Festgemeinde weiß mal wieder: In punkto Stilsicherheit ist noch ordentlich Luft nach oben, beim ersten Mann im Staat, daran haben fast vier Jahre im Amt so wahnsinnig viel nicht ändern können.

Ungezwungener Patriotismus

Ein gutes Jahr hat er noch. Es könnten auch noch deren sechs werden. In diesen Tagen wartet die Nation gespannt auf sein Wort, diesmal in eigener Sache. Das ist ja nicht oft so. Horst Köhler hat es tatsächlich geschafft: Über seine zweite Amtszeit entscheidet er als Souverän. Nicht viele hatten erwartet, dass das einmal so kommen könnte.

Es könn' alles so einfach sein. Isses aber nicht. Horst Köhler kann vor großer Kulisse herrlich linkisch sein und schüchtern wie ein Schulbub. Gerade wenn's gravitätisch wirken soll, egal ob in Wort oder Bild, kann's bisweilen kippen. Auf You Tube zuckt sich der Kabarettist Mathias Richling durch jene präsidiale Liebeserklärung an Deutschland aus dem Mai 2004, doch recht nah am Original. Damals, unmittelbar nach seiner Wahl hatte der Präsident verlauten lassen: "Ich liebe unser Land." So ungezwungen hatte schon lange keiner mehr seinen Patriotismus zu Protokoll gegeben.

Nur die Frage: Was denn genau? ist seinerzeit nicht gestellt worden. Den Staat kann er ja nicht gemeint haben, die Gesellschaft genauso wenig. Bei beiden entdeckt Köhler seither Reformbedarf, wohin er auch schaut.

Agenda 2020

Er schaut viel. Fast rastlos hat er das Land bereist seit seiner Rückkehr aus den USA vor gut vier Jahren. Es ist, als ob sich der oberste Repräsentant stellvertretend für die ganze Nation im Wettlauf fühlte bei diesem absurden Rattenrennen, das sich Globalisierung nennt. Köhler rennt. Gelegentlich schaut er sich dabei um, dann sieht er: Deutschland kommt bei diesem Lauf nur äußerst mühsam in die Puschen, geschweige denn vernünftig zu sich selbst. Das Land, da ist der Präsident sich sicher, verliert wertvolle Zeit, "wenn sich die Wohlfühlpolitik weiter ausbreitet".

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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In der vergangenen Woche sind Ungeduld und Unzufriedenheit mal wieder herausgeplatzt aus ihm - eine "Agenda 2020" hat er gefordert und das ausgerechnet in der "Super-Illu", dem Herzblatt der vom Reformtempo ohnehin ermatteten Ostdeutschen. Dann ist er nach Diktat verreist und das Reizwort von der "Agenda 2020" hat zu Hause in Berlin den gesamten politisch-publizistischen Komplex in Wallung gebracht, wie so oft. Typisch Köhler, lautete das Urteil, wie so oft. Dem Präsidenten selbst, fernab im mazedonischen Skopje, war's nur ein Schulterzucken wert. Hatte er das so denn nicht immer schon gesagt? Er, Köhler rennt. Aber seinem Land läuft die Zeit davon.

Wer sein Land liebt, das ist Köhlers Überzeugung, der muss es auch mit der Wahrheit konfrontieren dürfen.

Über 70 Prozent Zustimmung

Und das Land liebt ihn ja zurück, lässt man mal das Berliner Polit-Biotop beiseite. Das sieht den Ersten Mann im Staat im Bellevue vor sich hinwerkeln, als handele es sich dabei um eine Art APO 2.0, ein Fundamentalkritiker mit einem Schuss ins Monarchische.

Ganz falsch ist das nicht. Die Verkörperung des Gemeinwohls sieht Horst Köhler am besten bei sich aufgehoben. Entsprechend ungnädig ruht sein Auge auf dem Parteienstaat. Bisweilen betrachtet er ihn als eine Art gesellschaftliche Interessen und Probleme "aufsaugendes" Ungeheuer mit äußerst begrenzter Lösungskompetenz. Das wiederum hört das Ungeheuer nicht gern.

Beim Volk aber kommt der Bundespräsident gerade deswegen auf Zustimmungswerte wie höchstens noch Kaiser Franz direkt nach dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft. Köhler selbst quittiert das mit jener Prise Selbstironie, zu der nur die Selbstbewussten fähig sind. Als sich neulich in einer Umfrage 73 Prozent der Deutschen für eine zweite Amtszeit Köhlers aussprachen machte der Präsident sogar einen Scherz in eigener Sache: "Was, bloß 73 Prozent?"

Gretchenfrage zweite Amtszeit

So zufrieden sind die Deutschen mit ihrem ersten Mann und dessen stetem Genörgel am System, dass diese Beliebtheit nun sogar zur politischen Kategorie erhoben wird seitdem die Frage nach einer zweiten Amtszeit im Raum steht. Als ob die Bürger Köhlers Scherz gehört hätten: Inzwischen wünschen sich 77 Prozent eine zweite Amtszeit, neun von zehn Unions-Anhängern sind für seine Wiederwahl, ebenfalls so viele aus der Generation 60plus. Bei solchen Werten wird das im Wortsinn "Unparteiische" zum Politikum. Macht er es noch mal, so wie vor ihm bisher nur Theodor Heuss, Heinrich Lübke und Richard von Weizsäcker?

Es ist die Gretchenfrage. Horst Köhler ist am Zug.

Er ist mit sich im Reinen, was als Voraussetzung so schlecht nicht ist. In Zagreb, auf einer Veranstaltung des Goethe-Instituts, wird er dieser Tage von einer Studentin gefragt, ob er in seinem Leben jemals "eine beruflich falsche Entscheidung getroffen, diese eingesehen, aber später nicht zugegeben" habe. Da weiß er, dass er sich mit der Antwort aufs Glatteis begeben kann und sagt: "Ich habe mich nie überfordert gefühlt und am Ende hat es immer Spaß gemacht." Er hätte von Freude sprechen sollen, räsoniert er später im kleinen Kreis, weil alles andere zu sehr nach Spaßgesellschaft klinge. Aber vielleicht trifft es Spaß doch besser - und dass er alles zu Ende bringt, mit Engagement. "Leiten Sie daraus bitte nicht ab, dass auf eine weitere Amtszeit von mir hindeuten könnte", sagt Köhler anderntags. Er sagt das am Ende eines voll gepackten Tages, an dem er wie so oft Termine im Halbstundentakt bewältigt hat. Für fünf Jahre ist das seine Welt. Er kommt damit klar. Fünf weitere Jahre aber sind kein Pappenstil. Nicht, wenn man es so intensiv betreibt, wie er. "Es kostet Kraft, den Menschen Aufmerksamkeit zu geben", sagt Horst Köhler. Er will nicht nur so tun als ob.

Das Zögern der Kanzlerin

Hinzu kommt: Die Zeit, die er in den vergangenen Jahren für die Familie hatte, war doch weit weniger, als zuvor erwartet. Das alles will erwogen sein. Horst Köhler, sagt ein Intimus, "nimmt sich für solche Entscheidungen so lange Zeit, bis es anfängt quälend zu werden".

Da ist was dran. Die Gretchenfrage beantworten derweil erst mal andere.

Wenn der Präsident will, war FDP-Chef Guido Westerwelle Mitte März in der Angelegenheit Köhler öffentlich vorstellig geworden, hat er das erste Zugriffsrecht. "Vorgeprescht" sei er, sagt Westerwelle, verärgert darüber, dass die politische Klasse die Causa "Köhler, die Zweite" lange Zeit recht saumselig angegangen war. Allen voran: Angela Merkel. Deren öffentliches Plazet, vorgeblich aus "Respekt" vor der noch nicht geäußerten Entscheidung des Präsidenten, ließ derart lange auf sich warten, dass Köhler schon ein wenig auf heißen Kohlen im Bellevue saß und sich sogar bei hochrangigen Sozialdemokraten über das Schweigen der Kanzlerin mokierte. Als Mitte vergangener Woche dann endlich die Meldung vorab kommt, dass nun auch Angela Merkel seine zweite Amtszeit befürworte, sitzt der Bundespräsident gerade in Suite 108 des Hotels "Aleksandar Palace" und lässt sich über den Aufbau des mazedonischen Gesundheitswesens unterrichten. Weil das Gespräch ohnehin nur noch fünf Minuten dauern sollte, beschließt die Entourage des Präsidenten, die frohe Kunde aus Berlin erst gar nicht mehr in die Suite reinzureichen. Alles zu seiner Zeit.

Breitensteins Kartoffeltheorem

Köhler steht streng genommen für einen Fortbestand der großen Koalition - jedenfalls seitdem auch die SPD signalisiert hat, sich für die Wiederwahl jenes Mannes erwärmen zu können, den sie mal als "Arbeitgeberpräsidenten" etikettiert haben. Den Sozis fällt es schwer, einen aussagekräftigen Gegenkandidaten zu finden. Der darf zu links nicht sein und bloß kein Vorbote auf Rot-Rot-Grün. Das käme der Union gerade recht. Andererseits: Ein Ampelmann oder eine Jamaika-Frau sind republikweit so leicht nun auch wieder nicht zu finden - und den Charme, den ein Quereinsteiger verströmt, nun, den hat Köhler höchst selbst gehörig pulverisiert. Mangels dieser Alternativen ist inzwischen sogar so etwas wie ein Gewöhnungseffekt eingetreten, recht nah an Breitensteins Kartoffeltheorem: Jetzt sind die Kartoffeln da, jetzt werden sie auch gegessen.

Und Köhler selbst? Der Bundespräsident hat sich einen Korridor geschaffen, in dem er die Entscheidung bekannt geben will, ob er sich noch einmal in der Bundesversammlung zur Wahl stellt. Irgendwann zwischen dem 23. Mai und dem 1. Juli soll das sein. Es sind symbolische Daten, denn am Verfassungstag wird im nächsten Jahr gewählt und am 1.Juli 2009 begänne der zweite Term.

Ein Rackerer mit 66

Nun, da er Planungssicherheit hat, atmet er nicht auf, sondern spürt auch den Druck, die für ihn in Gang gesetzte Politmaschinerie eigentlich nicht mehr stoppen zu können. Ein Verzicht in quasi letzter Minute wäre nicht nur unbequem - Köhler hätte sich vollends als eigentümlicher Solitär entpuppt, für den ihn viele im Berliner Politikbetrieb ohnehin halten. Doch ein bald einsetzendes Dasein als "Deutschlands oberster Pensionär," sagt Köhler-Biograph Gerd Langguth, sei bei diesem Präsident nur "schwer vorstellbar." Zu umtriebig sei, zu ruhelos - ein "Rackerer," der sich die Lizenz zum Füße Hochlegen nur ungern selbst erteilt. 2009, beim zweiten Amtsantritt, wäre er 66. Für Staatsoberhäupter ist das kein Alter, für "Rackerer" erst recht nicht. Köhler rennt. In der verbleibenden Zeit will er sich des Zusammenlebens zwischen Jung und Alt annehmen. Nach Ansicht Köhlers ist darüber noch nicht ausreichend nachgedacht worden. Das Thema ist groß. "Es muss eine Emotion dahinter sein, eine Philosophie", sagt Köhler, die Zeiten der puren Fixierung auf das Ökonomische seien vorbei. Ein Jahr ist dafür fast zu knapp bemessen.