Frau Steinbach, sie wollen, dass das deutsche Zentrum gegen Vertreibung mit Sitz in Berlin möglichst noch dieses Jahr beschlossen wird. Warum braucht das Land so ein Zentrum?
Weil die Vertreibung von 15 Millionen Deutschen aus ganz Ost-, Südost- und Mitteleuropa Teil unserer gesamtdeutschen Identität ist. Das betrifft nicht nur die Vertriebenen, sondern auch die Nichtvertrieben, die in Köln, Hamburg und anderen Städten lebten und allein aufgrund ihres Wohnortes von einem solchen Schicksal verschont geblieben sind. Es ist ein Zeichen der Solidarität mit jenen, die in Kollektivhaft genommen wurden, obwohl sie nicht mehr oder weniger am Nationalsozialismus beteiligt waren als die übrigen Deutschen.
Aber viele der Kinder und der Enkelkinder der Vertriebenen identifizieren sich nicht mehr mit dem Schicksal ihrer Eltern und Großeltern. Rechtfertigt das geringe Interesse der Öffentlichkeit an dem Vertriebenenzentrum die Verwendung von Steuergeldern?
Das Interesse ist gerade bei der Enkelgeneration fast größer als bei der Kindergeneration. Wir beobachten in unserem Verband, dass sehr viele Jugendliche heute dahin fahren, wo ihre Großeltern früher gelebt haben - und zwar nicht mit geballter Faust, sondern oft mit Geld und offenem Herzen. Es gibt ein wunderbares Miteinander, das man sich auch von den Regierungen nicht kaputt hat machen lassen. Die tausendfachen Kontakte Vertriebener kommen dem europäischen Miteinander zu Gute.
Das geplante Dokumentationszentrum wird im europäischen Ausland mit Skepsis beäugt. Wie gehen Sie mit dieser Kritik um?
Aus den meisten europäischen Ländern erhalten wir überhaupt keinen Gegenwind. Die Ungarn unterstützen unser Anliegen. Wir haben sogar einen ungarischen Beirat. Auch die Tschechen haben gesagt, dass sie das Zentrum zwar nicht wollen. Aber die Deutschen sollen machen, was sie für richtig halten. Das einzige Land, aus dem es Gegenwind gab, das war unser Nachbarland Polen. Am Schicksal der Armenier in der Türkei lässt sich exemplarisch erkennen, dass solche Verweigerung nicht hilft. Die Türkei weigert sich bis heute, das Schicksal der Armenier auch nur anzuerkennen, obwohl niemand mehr lebt, der die Verantwortung zu tragen hätte. Je mehr man sich aber gegen die Anerkennung des Problems wehrt, desto lebendiger bleibt das Thema. Das könnte für unser Nachbarland, wo man im Wahlkampf eine sehr aggressive Debatte geführt hat, ein Lehrstück sein. Aus wahltaktischen Gründen ist hier die Angst vor dem deutschen Nachbarn geschürt worden - und zwar zu Unrecht.
Sie sprechen den polnischen Wahlkampf an, in dessen Verlauf das Thema immer wieder sehr polarisierend in Anschlag gebracht wurde. Haben Sie Verständnis für die Sorge, das Zentrum gegen Vertreibung könne die Schuldfrage verklären, aus Deutschen zu sehr Opfer machen?
Nur wer die Fakten ignoriert, kann behaupten, das „Sichtbare Zeichen“ der Bundesregierung oder die Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ wollten die Geschichte umschreiben. Das Gegenteil ist der Fall. Wir wollen die deutsche und europäische Geschichte wahrhaftig darstellen und auch an das Schicksal anderer Opfer erinnern. Man muss die ausgestreckten Hände unsererseits nur sehen wollen. Ich hoffe sehr, dass die neue Regierung in Warschau ihr Ziel nicht primär darin sieht, ihre Bürger mit etwas zu ängstigen, was so gar nicht vorhanden ist. Kein Mensch will in Deutschland die Geschichte umschreiben. Hitler hat die Büchse der Pandora geöffnet, das sage ich seit Jahr und Tag. Aber die Vertreibung war trotzdem unrechtmäßig. Das hat selbst Gerhard Schröder auf dem Tag der Heimat ganz deutlich gesagt. Alle Demokraten, Christ- oder Sozialdemokraten haben immer wieder deutlich gemacht, die Vertreibung der Deutschen war mit den Menschenrechten und dem Völkerrecht nicht zu vereinbaren und wir können das auch nicht nachträglich legitimieren, so sahen das alle deutschen Bundeskanzler
Der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, forderte diese Woche, der Bund der Vertriebenen möge "alle nationalistischen Eintrübungen" abschütteln und mit der "unseligen Tradition brechen", die Vertreibungen mit dem Holocaust gleichzusetzen. Werden Sie sich Graumanns Worte zu Herzen nehmen?
Herr Graumann ist wahrscheinlich ziemlich unbelesen oder hat schlecht recherchiert. Es gibt nirgendwo eine Veröffentlichung oder eine Aussage von uns, in der von einer Gleichsetzung die Rede ist. Der Holocaust ist eine Singularität. Ich war viele Jahre Schirmherrin der jüdischen Frauen in Frankfurt und habe mich mit dem Schicksal der Juden in Deutschland sehr viel früher beschäftigt als mit der Vertreibung der Deutschen. Wenn man sich von Opferverband zu Opferverband äußert, sollte man sorgfältig den Fakten nachgehen. Unser Verband steht in der Mitte der Gesellschaft, und wir lassen uns von niemandem weder in die rechte noch in die linke Ecke stellen oder vereinnahmen.