Die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei werden nach Angaben des irischen Außenministers Dermot Ahern teilweise ausgesetzt. Er und seine EU-Kollegen hätten sich " geeinigt", acht der 35 Verhandlungskapitel auf Eis zu legen, sagte Ahern in Brüssel. Keine Einigung bestehe indes in der Frage, ob der Beitrittsprozess in ein bis zwei Jahren erneut einer grundlegenden Überprüfung unterzogen werden sollte, sagte Ahern.
Zuvor gab es innerhalb der großen Koalition Unstimmigkeiten über die Türkei-Politik. Erst äußerte sich Kanzlerin Angela Merkel, dann pfiff Außenminister Frank-Walter Steinmeier seine Chefin zurück, was wiederum die Union erzürnte. stern.de-sprach dazu mit Matthias Wissmann (CDU).
Herr Wissmann, Sie kommen gerade aus dem CDU-Vorstand. Haben Sie dort über die Türkei gesprochen?
Ja. Wir waren uns einig, dass wir unsere Linie im Verhältnis zur Türkei weiter verfolgen. Der ergebnisoffene Verhandlungsprozess über einen EU-Beitritt geht weiter, wenn die Türkei bereit ist, ihre Verpflichtungen zu erfüllen, die sich aus dem Ankara-Protokoll ergeben. Dieses besagt unmissverständlich, dass die Türkei alle Häfen und Flughäfen für die Schiffe und Flugzeuge aus den EU-Mitgliedsländern öffnen muss. Das gilt auch für jene zehn Staaten, die der EU 2004 beigetreten sind - also auch für Zypern.
Zur Person
Seit 2002 ist der CDU-Politiker Matthias Wissmann (57) Vorsitzender des Bundestags-Ausschusses für Angelegenheiten der Europäischen Union. Im Kabinett von Bundeskanzler Helmut Kohl war Wissmann, der seit 1976 im Bundestag sitzt, zunächst Minister für Forschung und Technologie, dann Verkehrsminister. Der Jurist vertritt den Wahlkreis Ludwigsburg in Baden-Württemberg.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat die Kanzlerin in einem Interview mit dem "Spiegel" ermahnt, auf "unangemessene Reaktionen" im Umgang mit der Türkei zu verzichten. Wie war die Reaktion im CDU-Vorstand auf diese Mahnung des SPD-Politikers, die Türken nicht zu verprellen? Ich habe die Äußerungen Steinmeiers nicht als Ermahnung verstanden. Kanzlerin und Außenminister haben beide die Pflicht, sich dafür einzusetzen, dass die Türkei alle Verpflichtungen, die sie eingegangen ist, auch erfüllt. Dabei hat keiner von uns Schaum vor dem Mund. Wir sind ganz ruhig und gelassen. Aber es wäre kein gutes Omen für die weiteren Verhandlungen, wenn die Türkei die von Premierminister Erdogan eingegangenen Verpflichtungen gegenüber allen EU-Mitgliedsländern nicht erfüllen würde. Nicht mehr und nicht weniger.
Aber es gibt doch innerhalb der großen Koalition zwei unterschiedliche Ansätze: Die Kanzlerin will eine härtere Gangart einschlagen, der Außenminister will Ankara nicht zu sehr unter Druck setzen. Wofür stehen Sie denn?

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Die Türkei muss einfach wissen, dass die Europäische Union gerne weiter konstruktiv verhandelt, aber dass sie eine ruhige und feste Hand hat. Die Türkei muss auch wissen, dass die Europäische Union nicht bereit ist, business as usual zu betreiben, wenn Ankara Zusagen nicht einhält. Das würde nur dazu führen, dass wir einen ständigen Basarhandel veranstalten würden, auf dem sich niemand mehr darauf verlassen könnte, dass ein gegebenes Wort auch gilt. Das wäre kein gutes Zeichen für die künftige Partnerschaft von Türkei und Europäischer Union. Der innertürkische Reformprozess hat sich seit Monaten verlangsamt. Das betrifft Minderheitenrechte, den Schutz von Religionsgemeinschaften, die Rechte von Frauen, die Pressefreiheit. Hier muss die Türkei Signale senden, dass sie bereit ist, mehr zu tun.
Offenbart sich im Umgang mit der Türkei eine Sollbruchstelle der Koalition? Nein. Wir stehen treu zum Koalitionsvertrag, der ergebnisoffene Verhandlungen mit der Türkei vorsieht. Aber darüber, was im nächsten Jahrzehnt hinsichtlich des Verhandlungsziels geschieht, gibt es unterschiedliche Auffassungen. Die SPD arbeitet auf eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union hin. Wir dagegen sagen: Wir sollten rechtzeitig nach dritten Wegen zwischen dem heutigen Zustand und einer wahrscheinlich unerreichbaren Vollmitgliedschaft suchen.
Die EU-Kommission hat vorgeschlagen, in den Verhandlungen acht der 35 Kapitel in den Beitrittsverhandlungen "einzufrieren", die Niederländer würden gerne zehn Kapitel einfrieren. Was wäre richtig? Falls die Türkei das Ankara-Protokoll in diesen Monaten nicht ratifiziert, sollte man acht bis zehn Kapitel aussetzen - als klares Signal an die Türkei. Darüber hinaus müssen wir klar machen, dass wir nicht bereit sind, irgendein Verhandlungskapitel zu schließen, bevor es zu einer Veränderung der türkischen Position gekommen ist. Und wir sollten, drittens, wie es die Bundeskanzlerin vorgeschlagen hat, eine Überprüfungsklausel vorsehen. Diese könnte besagen, dass sich der Europäische Rat spätestens 2008 anhand eines Fortschrittsberichts der Europäischen Kommission mit der Frage befassen soll, was er unternimmt, wenn die Türkei das Ankara-Protokoll bis dahin immer noch nicht ratifiziert haben sollte. Dann wären auch weitere Konsequenzen möglich.
Was für ein Signal wird Ende dieser Woche vom Europäischen Rat in Brüssel ausgehen?
Wenn die Türkei bis dahin nicht eingelenkt hat, wird der Europäische Rat mit Sicherheit zu den eben genannten Konsequenzen greifen.