EU-Parlamentarier Außer Kontrolle

Der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim hat die Zusatzeinkommen der EU-Parlamentarier geprüft und fällt ein harsches Urteil: "Unangemessen und rechtswidrig".

Der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim hat die Zusatzeinkommen der EU-Parlamentarier geprüft und fällt ein harsches Urteil: "Unangemessen und rechtswidrig".

Nehmen wir einen Abgeordneten aus einem der neuen Mitgliedsländer der Europäischen Union, sagen wir aus Ungarn. Wenn der demnächst ins Straßburger Europaparlament einzieht, muss er sich zunächst vorkommen wie ein armer Verwandter: Gerade mal 805 Euro "Grundentschädigung" im Monat erhält er dafür, dass er fortan seinem Volk Sitz und Stimme im geeinten Europa gibt. Den lieben Kollegen aus dem Westen geht es da weitaus besser: Deutsche Abgeordnete verdienen 7009 Euro, Österreicher 8750 Euro, Italiener sogar 10 975 Euro. Das ist so, weil sich die Diäten der EU-Parlamentarier grundsätzlich (nur nicht bei den Niederländern) an denen der nationalen Abgeordneten orientieren und auch von den Heimatländern bezahlt werden.

Doch das Darben des Ungarn hätte spätestens ein Ende, wenn seine Arbeitskraft erlahmt. Denn dann fällt er in ein breites Netz, das sich das EU-Parlament gespannt hat. Wird ein Abgeordneter dienstunfähig, erhält er monatlich 5431 Euro, gleich welcher Nationalität er ist, und für jedes unterhaltsberechtigte Kind noch einmal 905 Euro dazu. Hat unser siecher Magyar drei Kinder, bekommt er also 8146 Euro - das Zehnfache dessen, was ein gesunder Landsmann als aktiver Volksvertreter verdient. Denn bezahlt wird die großzügige Versorgung nun vom Europaparlament.

Das Gutachten im Wortlaut

Das Gutachten des Staatsrechtlers und Parteienkritikers Hans Herbert von Arnim im Wortlaut als pdf-Download. (Die Datei hat ein Größe von 73 KB.)

System umfänglicher Zusatzeinkommen und Doppelversorgungen

Und das hat sich ein verzweigtes System umfänglicher Zusatzeinkommen und Doppelversorgungen geschaffen, für das der Lohnersatz bei Invalidität nur ein Beispiel ist. Die "Kostenerstattungs- und Vergütungsregelung für die Mitglieder des Europäischen Parlaments" umfasst 62 Seiten und ist kaum bekannt. Beschlossen wurde sie allein vom Präsidium des Parlaments - vorbei am Parlamentsplenum, der Öffentlichkeit, dem Ministerrat und der Europäischen Kommission.

Der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim aus Speyer hat die einschlägigen Regeln genau unter die Lupe genommen. Sein Gutachten ist bei stern.de im Wortlaut nachzulesen, das Ergebnis verheerend: Die Bestimmungen seien "unangemessen und rechtswidrig", sie enthielten "eine Reihe untragbarer Auswüchse", die Art ihres Zustandekommens verstoße mehrfach gegen den EG-Vertrag, etwa gegen dessen Artikel 190, der die Anhörung der Kommission und die Zustimmung des Ministerrats verlangt. Entsprechende Hinweise des Europäischen Rechnungshofs werden in den Wind geschlagen. Wohlgemerkt: Es geht dabei nicht um die eigentlichen Einkommen der Abgeordneten, sondern um die Erstattung vermeintlicher Kosten und um allerlei Zusatzversorgungen, die laut von Arnim "den Haushalt in Brüssel mit Hunderten von Millionen Euro belasten".

Ausgelöst durch Recherchen des stern (Nr. 12/2004 und 13/2004), ist eines der umstrittenen Instrumente zuletzt zu einiger Prominenz gekommen: das so genannte Tagegeld von steuerfreien 262 Euro. Es wird für jeden Sitzungstag des Parlaments, seiner Ausschüsse und Organe, an denen der Abgeordnete seine Anwesenheit durch Unterschrift dokumentiert, bezahlt, ebenso für "Brückentage" zwischen den Sitzungstagen sowie für "freie Freitage", wenn am Tag zuvor Sitzung war. Das Tagegeld soll vor allem die Kosten für Unterkunft und Verpflegung decken und macht "normalerweise rund 3500 Euro im Monat aus", schreibt von Arnim. Das Schöne für die Volksvertreter: "Wer Billigunterkünfte frequentiert oder sich in Brüssel (wo die meisten Sitzungen stattfinden) ein Apartment mietet, wie dies offenbar die große Mehrheit der Abgeordneten tut, oder sich zum Essen einladen lässt, etwa von Lobbyisten, spart große Teile des Tagegeldes und behält ein beträchtliches steuerfreies Zusatzeinkommen übrig."

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!

Generöse Behandlung von Reisekosten

Auch Reisekosten werden generös behandelt. Bei Flügen nach Straßburg oder Brüssel wird pauschal der Preis für den teuersten Economy-Class-Tarif erstattet. Das sind etwa für ein Rückflugticket Berlin-Brüssel knapp 1000 Euro - und die bekommt auch, wer einen Billigflug für 200 Euro bucht. "Solche Spesenreiterei, zu der auch noch eine Entfernungspauschale hinzukommt, die je nach Kilometerzahl zwischen 112 und 558 Euro beträgt, kann deutschen Abgeordneten an die 30 000 Euro im Jahr einbringen, steuerfrei natürlich", hat von Arnim herausgefunden.

Weil auch in der Heimat Kosten entstehen könnten, bekommen die Parlamentarier jeden Monat eine steuerfreie Pauschale von 3700 Euro - egal, wie viel sie wirklich ausgeben. Für die deutschen EU-Abgeordneten zum Beispiel kommt für viele mandatsbedingte Kosten der Bundestag auf. Wiederum kann ein schönes Zubrot übrig bleiben. "So stellt das Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt ausdrücklich fest, dass in dem von ihm zu beurteilenden Fall ein deutscher EU-Abgeordneter - wegen der umfangreichen Sachleistungen und sonstigen Privilegien, die er genoss - fast die ganze Kostenpauschale und das gesamte Tagegeld zur persönlichen freien Verfügung hatte", schreibt von Arnim.

Besonders lohnend ist die Pauschale aber auch für die Volksvertreter aus den östlichen Beitrittsländern: Die Durchschnittseinkommen liegen oft unter 400 Euro, entsprechend niedriger sind die Lebenshaltungskosten und damit auch die Ausgaben des Abgeordneten.

Einen ähnlichen Effekt hat die Bezahlung der Mitarbeiter: Bis zu 12 576 Euro im Monat darf jeder Abgeordnete für seine Helfer ausgeben. Für viele der Neuen aus dem Osten bedeutet dies: Sie können einen Mitarbeiter in Brüssel einstellen - und noch einmal 15 zu Hause, wenn sie denen das Durchschnittseinkommen ihrer Heimat zahlen. Das, moniert von Arnim, dürfte nicht nur zu einem "personellen Wasserkopf" führen, sondern gefährde auch "aufs Höchste den Grundsatz der innerparteilichen Demokratie" - nämlich dann, wenn die Abgeordneten "ihre gewaltige Kaufkraft" im parteiinternen Machtkampf einsetzten. Zumal auch schon heute in der EU gelte: "Über die Qualität und Verwendung der Mitarbeiter verlangt niemand Rechenschaft" - nicht selten würden Freunde und Verwandte beschäftigt.

Absurdes Ergebnis

Auch wenn sich die Abgeordneten zur Ruhe setzen, soll es ihnen gut gehen. Deshalb gönnen sie sich ein Versorgungssystem fürs Alter, das die ohnehin meist vom Heimatland bezahlte Pension großzügig ergänzt, oft ohne jede Anrechnung. Nach 20 Jahren im EU-Parlament ist der Höchstbetrag von monatlich 5097 Euro erreicht - allein aus dieser Zusatzversorgung. Das führt zu dem absurden Ergebnis, dass die Gesamtpensionen in den meisten Mitgliedsländern höher sein können als die Bezüge der aktiven Abgeordneten. Finanziert wird die Zusatzrente zu einem Drittel aus eigenen Beiträgen, den großen Rest schießt der europäische Fiskus zu.

Eigenwillig ist auch eine besondere Regelung für Italiens EU-Abgeordnete. Weil denen ihr eigener Staat keine Pension spendiert, springen wieder Europas Steuerzahler ein - und heben die Abgeordneten auf das besonders hohe Niveau ihrer Heimat: Schon nach fünf Jahren im Parlament ist ihnen ein Ruhegeld von monatlich 2744 Euro sicher, nach zehn Jahren sind es 4171 Euro. So haben die italienischen Europaparlamentarier nicht nur mit rund 11000 Euro die höchsten Diäten, sondern auch die höchsten Pensionen - bezahlt von den Steuerzahlern des ganzen Kontinents.

Selbstbedienung vorbei an demokratischen Grundprinzipien

Die lukrativen Regeln, die das Parlamentspräsidium seinen Abgeordneten spendierte, "sind, rechtlich gesehen, öffentliche Verschwendung und verstoßen gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot", urteilt von Arnim. "Das war nur möglich, weil das Verfahren krasse Kontrollmängel aufweist, obwohl bei Entscheidung des Parlaments in eigener Sache wirksame Kontrollen eigentlich besonders wichtig wären." Weniger geschliffen formuliert: Europas Abgeordnete haben sich selbst bedient - vorbei am europäischen Recht und an demokratischen Grundprinzipien, auf die sich die EU so gern beruft.

print