Sind wir ein familienpolitisches Entwicklungsland? Selten zuvor wurde in Deutschland so hitzig debattiert: übers Kinderkriegen, über Krippenplätze und "Gebärmaschinen", "Wahlfreiheit" der Eltern und Kindeswohl. Und das alles immer sehr prinzipiell und sehr erbittert. Die Emotionen kochen auch deshalb so hoch, weil viele - egal, ob sie schon Kinder haben oder noch welche in die Welt setzen wollen - das Gefühl haben, vom Staat im Stich gelassen zu werden. Stimmt das? Ist es wirklich so, dass eines der immer noch reichsten Länder der Welt dann knauserig wird, wenn es darum geht, künftige Steuer- und Beitragszahler vernünftig heranwachsen zu lassen?
232 Milliarden Euro bekommen die Familien
Es stimmt. Und auch wieder nicht. Das zeigt ein nüchterner Blick auf die Zahlen. Fast 232 Milliarden Euro schüttet der Staat Jahr für Jahr an deutsche Familien aus. Das hat eine hochrangig besetzte Expertenkommission für Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) ausgerechnet. Die Fachleute ziehen davon allerdings die Ausgaben für die Schulen (rund 47 Milliarden) ab, weil es sich dabei eher um Bildungs- als um Familienausgaben handelt. Bleiben aber immer noch 184,5 Milliarden Euro für Deutschlands Familien - eigentlich ein schöner Batzen und im internationalen Vergleich offenbar gar nicht mal so wenig. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt lag Deutschland 2001 mit Familienausgaben von 2,8 Prozent im vorderen Mittelfeld - hinter Dänemark, Schweden (jeweils 3,8 Prozent) und Frankreich (3,6), aber vor Großbritannien (2,3), den Niederlanden (1,5) und den USA (1,1).
Das Problem ist nur: Die Leistungen sind auf zahllose Fördertöpfe verteilt. Und: Viele kommen jungen Familien gar nicht oder zumindest nicht direkt zugute. "Über die Jahrzehnte ist ein überkomplexes Fördersystem entstanden", analysiert der renommierte Berliner Familienforscher Hans Bertram. "Sogar die Politiker blicken nicht mehr richtig durch. Von den Familien ganz zu schweigen." Von der Leyens Expertenrunde hatte tatsächlich große Mühe, den Überblick zu behalten, als sie in Familienetats und Sozialversicherungen, bei Jugendämtern und Beamtenkassen nach Fördertöpfen fahndete.
Fast 40 Stellen verteilen
Das Ergebnis: Eltern beziehen von fast 40 verschiedenen öffentlichen Stellen mehr als 150 verschiedene staatliche Leistungen. Im Förderwust finden sich zahllose Mini-Posten wie "einmalige Zahlungen nach dem Mutterschutzgesetz an Frauen, die nicht Mitglieder einer gesetzlichen Krankenkasse sind" oder "Beratung in Fragen der Partnerschaft, Trennung und Scheidung". Scheinbar wird alles und jedes gefördert - wenn auch nur ein bisschen.
Zu den größten Brocken zählen das Kindergeld (34,7 Milliarden), die Witwenrenten (34,3), die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern und nicht arbeitenden Ehepartnern in der Kranken- und Pflegeversicherung (insgesamt 27,1). Aber auch das Ehegattensplitting (19,7) und die Anrechnung der Babyjahre in der Rente (11,7) verschlingen große Summen. Erstaunlich wenig Geld fließt in das, was man sich eigentlich unter Kinderförderung vorstellt: "Nur" 10,2 Milliarden Euro investierte der Staat 2005 in die Betreuung der Kleinen in Krippen, Kindergärten und Horten.

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Traditionell indirekt unterstützt
"Die gegenwärtige Förderphilosophie steht noch ganz in der Tradition der alten Bundesrepublik", urteilt Familienforscher Bertram. Anders als etwa in Frankreich oder in Skandinavien werden Familien in Deutschland traditionell eher indirekt unterstützt: Der Staat begünstigt steuerlich das Jawort vor dem Standesamt, er honoriert die Erziehungsleistungen, die - fast immer - Frauen erbringen, bei der späteren Rente, er sorgt dafür, dass der Nachwuchs kostenlos krankenversichert ist. Alles in der Hoffnung, dass sich viele Menschen am Ende für das Leben mit Kindern entscheiden. Der Nachteil: Die Förderung wird "mitgenommen", ohne dass Familiengründer sie richtig bemerken.
Oft setzt die staatliche Wohltat sogar erst dann ein, wenn die Zeit schlimmster finanzieller Engpässe vorbei ist: Jungen Eltern nutzt es relativ wenig, wenn sie wissen, dass sie in 30 oder 40 Jahren als Rentner einen Kinderbonus erhalten. Hinzu kommt, dass vieles gefördert wird, was mit Kindern wenig oder gar nichts zu tun hat. So kommen auch Ehepaare, die keine Kinder zeugen, in den Genuss des Ehegattensplittings bei der Einkommensteuer. Ehegatten ohne Arbeit sind auch ohne Kinder kostenlos kranken- und pflegeversichert. Hinterbliebene bekommen aus der Rentenversicherung einen eigenen Anspruch, unabhängig davon, ob sie Kinder erzogen haben.
Eigentlich eher Eheförderung
Genau genommen ist "Familienförderung" in Deutschland also vor allem Eheförderung: Insgesamt gehen 74 Milliarden Euro an Paare mit Trauschein - egal, ob sie Kinder großziehen. Und die knapp 12 Milliarden, die für die Anrechnung der Erziehungszeiten in die Rentenkasse fließen, werden im "Umlageverfahren" zunächst an die jetzt Alten ausbezahlt. Beides zusammen macht knapp 86 Milliarden, die man eigentlich von den so imposant klingenden 184,5 Milliarden abziehen muss. Es bleiben nur etwa 99 Milliarden Euro, die direkt bei den Familien ankommen.
Kurioses Ergebnis: Diejenigen, die auf die hohen Summen verweisen, die in Deutschland schon für Familien ausgegeben werden, haben Recht. Und diejenigen, die sagen, dass sie davon verdammt wenig merken, liegen ebenso richtig. Von der Leyens Expertenrunde durchforstet jetzt den Förderdschungel. Was ist verzichtbar, wo wird zu viel gezahlt, wo zu wenig, und vor allem: Wie lässt sich das Ganze auf wenige, für jeden durchschaubare Instrumente reduzieren? Anfang kommenden Jahres sollen die Fachleute ihre Konzepte vorlegen. Aber die grobe Richtung scheint jetzt schon klar: Die Ministerin will vor allem mehr direkte Förderung, die Zahl der Krippenplätze und Tagesmütter-Angebote will sie von heute 250.000 bundesweit auf 750.000 bis zum Jahr 2013 erhöhen.
Von der Leyen immer beliebter
Unklar ist die Finanzierung: Die SPD will das Ehegattensplitting kappen, Kinderfreibeträge senken und das Kindergeld "einfrieren". Das wäre ein weitgehender Abschied von der traditionellen (west-)deutschen Familienpolitik - vor allem der konservative Teil von CDU/CSU leistet dagegen heftigen Widerstand. Ursula von der Leyen aber scheint die neue Debatte über Sinn und Unsinn der Kinderförderung zu nutzen. Auf der Rangliste der beliebtesten Politiker, ermittelt vom ZDF-"Politbarometer", hat sie sich verbessert: Nach Kanzlerin Merkel, CDU-Vize Wulff und Außenminister Steinmeier liegt sie jetzt schon auf Platz vier.