Frank-Walter Steinmeier Zweite Chance für den Unvollendeten

Frank-Walter Steinmeier winkt
Vor Frank-Walter Steinmeier liegen große Aufgaben in seiner zweiten Amtszeit
© Bernd Von Jutrczenka / DPA
Mit einer starken Rede startet Frank-Walter Steinmeier in seine zweite Amtszeit als Bundespräsident. Er kann jetzt einlösen, was er schon zu seiner ersten Wahl versprach: Die Demokratie stärken. Die Aufgabe ist dringlicher denn je, meint unser Autor.

Der Applaus war kaum verstummt, viele Mitglieder der Bundesversammlung hingen der Rede, die sie gerade gehört hatten, wohl noch nach, da stand Frank-Walter Steinmeier auf dem Podium, blickte nach rechts und stellte der Bundestagspräsidentin – das Mikrofon war noch offen – eine durchaus bezeichnende Frage: "Und", fragte der alte und neue Bundespräsident schmunzelnd, "was machen wir jetzt?"

Die Frage galt natürlich dem strengen, der Pandemie geschuldeten Protokoll – aber sie enthielt auch eine gewisse programmatische Berechtigung.

Aufgabe für Frank-Walter Steinmeier: Stärkung der Demokratie

Denn vor wenigen Monaten, im Sommer des letzten Jahres, war Steinmeiers Wiederwahl alles andere als gewiss: Die Mehrheiten waren noch unklar und Steinmeier selbst hatte als Bundespräsident nicht den Eindruck erweckt, der eine zweite Amtszeit direkt zwingend hätte erscheinen lassen. Im Gegenteil, er hatte in den ersten fünf Jahren durchaus Aufgaben und Gelegenheiten (die Anbahnung der Großen Koalition 2017, seine Reden nach den Anschlägen von Halle und Hanau), trotzdem war er als Staatsoberhaupt irgendwie auch blass geblieben – vernünftig zwar und ohne Fehler, aber auch ohne Charisma und ohne ein Leitmotiv, das sich wirklich eingeprägt hätte.  

Es gibt nicht viele Bundespräsidenten, die die Ehre einer zweiten Amtszeit erhalten haben: Theodor Heuss, Heinrich Lübke, Richard von Weizsäcker, Horst Köhler (der dann aber bald nach der Wiederwahl beleidigt hinwarf) und nun Steinmeier. Er ist der fünfte von insgesamt zwölf Präsidenten, die Deutschland seit 1949 hatte. Und für Steinmeier ist es nicht nur eine Ehre, es ist auch eine zweite Chance.

Denn Steinmeier hat für sich eine Aufgabe identifiziert, die dringlicher und wichtiger kaum sein könnte: Die Stärkung unserer Demokratie. Sie ist bedroht, im Inneren und von außen, wie diese Tage und Wochen auf bedrückende Weise zeigen. Steinmeier hat das erkannt und heute, nach seiner Wiederwahl, so deutlich wie wohl nie zuvor angesprochen. Es war tatsächlich die beste Rede, die er bis jetzt im Amt gehalten hat.

Steinmeier mit klaren Worten an Putin

Gegenüber Russlands Präsident Wladimir Putin, der mit seinen Truppen die Ukraine eingekreist hat, fand Steinmeier die bislang deutlichsten Worte: "Wir sind inmitten der Gefahr eines militärischen Konflikts, eines Krieges in Osteuropa. Dafür trägt Russland die Verantwortung!" Der Truppenaufmarsch sei eine Bedrohung für die Ukraine "und soll es ja auch sein". Auf eine Invasion werde Deutschland "entschlossen antworten", das Land sei unverrückbar Teil der Nato und stehe fest an der Seite aller Bündnisstaaten, ausdrücklich auch der Esten, Letten und Litauer. Und er richtete sich direkt an den russischen Staatschef: "Ich appelliere an Präsident Putin: Lösen Sie die Schlinge um den Hals der Ukraine! Und suchen Sie mit uns einen Weg, der Frieden in Europa bewahrt!"

Es waren Sätze, wie man sie vom Kanzler seit Wochen vermisst. Und Steinmeier verstand es, die Bedrohung von Außen mit den tiefen und immer tieferen Konflikten im Innern der deutschen Gesellschaft zu verbinden: Die Demokratie sei auch deshalb so verletzlich, weil sie eben nicht die Macht in der Hand eines Einzelnen konzentriert, sondern in jeder Frage und bei jedem Problem aufs Neue um Lösungen ringe – zwischen Regierung und Opposition, mit der Unterstützung von Wissenschaftlern und Experten, begleitet von Medien, die alles hinterfragen. Gerade in der Pandemie seien diese demokratischen Prozesse unter Druck gekommen, räumte Steinmeier ein: "Unser Weg heraus aus der Pandemie ist kein geradliniger. Es gab Fehler und Fehleinschätzungen, auch bei uns. Aber man zeige mir ein autoritäres System, das besser durch die Pandemie gekommen wäre!"

Video: Steinmeier: Präsident Putin, lösen Sie die Schlinge um den Hals der Ukraine!
Steinmeier: Präsident Putin, lösen Sie die Schlinge um den Hals der Ukraine!

Steinmeier muss entschiedener, offensiver und mutiger werden

Hier sieht Steinmeier seine vordringliche Aufgabe für die nächsten fünf Jahre – und hier kann er und muss er tatsächlich einiges leisten: "Nach zwei Jahren Pandemie macht sich Frust breit, Enttäuschung, Gereiztheit", sagte er, "wir haben uns aufgerieben im Streit um den richtigen Weg, im Streit weit über die Politik hinaus, in den Betrieben und an den Schulen, unter Freunden und Kollegen, bis hinein in jede Familie."

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Es sind diese Konflikte, die tatsächlich viele Menschen inzwischen umtreiben, die man überall hört, beim Geburtstag der Oma oder aus Seniorenheimen, wo Geimpfte und Ungeimpfte inzwischen nur noch widerwillig zusammen ihre Dienste versehen und im Pausenraum die großen Konflikte der Pandemie austragen. Wohl jeder fragt sich doch inzwischen: Wie kommen wir aus diesem Schlamassel je wieder raus? 

Wenn Steinmeier hier eingreifen und überhaupt wieder rationale Dialoge ermöglichen will, hat er eine große Aufgabe vor sich. Es sind für ihn sogar alte Themen, die er aufgreift. Denn schon für seine erste Amtszeit hatte er sich dieses Leitmotiv gewählt: Die Demokratie stärken. Dann kam die Pandemie und machte alles so viel schwieriger, auch die eigentlich geplanten Reisen, Auftritte und Dialoge mit Bürgern. Nun also hat Steinmeier eine zweite Chance, die er nutzen muss: hoffentlich entschiedener, offensiver und mutiger als in der ersten Amtszeit. Es wäre ihm und dem Land zu wünschen.

rw