Anfang September 2006 ruft mich mein Agent an. Murat Kurnaz möchte ein Buch schreiben. Willst du ihm dabei helfen? fragt mich Alexander - ich sage sofort zu. Einige Tage später sitze ich in einem türkischen Restaurant in Berlin diesem Mann gegenüber, der noch wenige Wochen zuvor der Gefangene 061 in Guantanamo war.
Auf den Fotos wirkte er wesentlich älter. Er ist ein Mann mit einem mächtigen Bart und einem jungen Gesicht darunter. Seine Schultern und Oberarme verbeulen das Jackett. Er strahlt eine große Ruhe aus. "Ich habe gehört, du boxt?" fragt er. "Ein bisschen, hobbymässig". Und dann lachen seine Augen: Es sind gute, warme, listige Augen.
Bald darauf sitze ich mit ihm zum ersten Mal in seinem Kinderzimmer im Souterrain des elterlichen Hauses in Bremen-Hemelingen. Dort ist noch alles so, wie er es mit 13 Jahren einmal eingerichtet hat. Die Galeone auf der Fensterbank. Die Hanteln, die CDs, die von der Decke hängen. 2pac Shakur, Snoop Doggy Dogg. Das blaue Schlafsofa benutzt er nicht mehr. Er schläft auf dem Boden, so, wie er fünf Jahre in einem Käfig geschlafen hat.
Zur Person
Der Berliner Journalist Helmut Kuhn kennt Murat Kurnaz seit Jahren und hält mit ihm Kontakt. Gemeinsam mit Kurnaz schrieb er das Buch "Fünf Jahre meines Lebens. Ein Bericht aus Guantanamo" (Rowohlt, 17,90 Euro), das nun in englischer Sprache herauskommt. Schon im Vorfeld sorgte der Fall in den USA für Wirbel: Die CBS strahlte vergangenen Sonntag einen Beitrag über Kurnaz in der renommierten TV-Sendung "60 Minutes" aus, am Freitag werden Anwälte und Menschenrechtler in der New York Library über den Fall diskutieren. Kuhn bezeichnet sich selbst als Freund von Murat Kurnaz.
Der Teufel liegt im Detail
Murat hat sehr schnell kapiert, dass beim Schreiben der Teufel im Detail liegt. Wir beginnen mit seiner Kindheit und den Besuchen im Dorf der Mutter in der Türkei. Es kommen Geschichten, wie sie Bertolucci hätte filmen können: Auf der Haselnussplantage seines Großvaters rutscht er mit seinem Cousin auf Omas Backblech den Hain hinunter, zu seiner Hochzeit lädt ein Wagen per Lautsprecher alle Nachbarorte ein, und zum ersten Mal in der Geschichte des Dorfes Kusca taucht bei dieser Feier ein Eiswagen auf, der wie eine Mondrakete bestaunt wird.
Und dann fallen sehr bald Sätze, harte, kurze Sätze, die man nicht verbessern kann: "Noch ehe ich merke, was passiert, spüre ich den ersten Schlag. Strom. Elektroschocks. Sie halten mir die Elektroden an die Fußsohlen. Ich nehme den Strom wie ein Knattern wahr, ein schnelles Knallen, wie kleine Blitze in meinem Ohr. Wenn ich jetzt in mein Ohr hinein sehen könnte, dann wäre da Strom, dann würde man den Strom sehen." Zwischendurch vollführt er rituelle Waschungen, streift sich einen Kaftan über und geht in einen anderen Raum beten. Ich gehe draußen eine Rauchen.
Heute ist der Bart ab
Wir haben eine Menge Zeit in diesem kleinen Kellerraum verbracht. Murat hat ein gutes Gedächtnis und Einfühlungsvermögen, einmal abgesehen davon, dass er gelegentlich bestimmte Artikel verwechselt. Solche Dinge hat er in der Schule leider verpaßt. Er spielte lieber an der Weser auf dem Schrottplatz oder traf sich mit Mädchen. Ob es "der", "die" oder "das" Weser heißt, darauf kam es im Leben der türkischen Vorstadtkids nicht weiter an.
Auch sein Englisch war alles andere als gut, weil er zu dieser Zeit keinen Nutzen in der Sprache sah. In Guantanamo hat er die Sprache gelernt. So konnte er sich gegenüber seinen Peinigern verteidigen und mit seinen Mitgefangenen verständigen. Ich staunte nicht schlecht, als er in einem Handy-Gespräch mit einem Freund plötzlich ins Italienische wechselte. "Hab ich von den Algeriern, die in Italien gelebt hatten." Ebenso lernte er von den Saudis Arabisch, von den Afghanen Farsi und den "Özbeks" usbekisch, das dem Alttürkischen ähnelt. "Reisen bildet", sagt er.

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Heute ist der Bart ab. Murat hat wieder kurze Haare und sieht aus wie ein ganz normaler junger türkischer Mann. Er genießt es, nicht mehr auf der Straße erkannt zu werden. In Guantanamo hatte ihn sein Glaube gerettet. In Deutschland hat ihn seine Familie aufgefangen. Er hat wieder Spaß am Leben, lacht gern und simst wie ein Weltmeister. Vor einigen Wochen erst hat er mich ein paar Tage in Berlin besucht.
Er ist sehr viel lockerer geworden. Er sagt, er war in der Moschee, aber als er bei mir wohnte, habe ich ihn nicht ein einziges Mal beim Beten erwischt. Neugierig wie ein Kind saugt er die Stadt in sich auf, vor allem Kreuzberg fasziniert ihn. Im Zoo hat er von fast allen Tieren kleine Videoclips gedreht. Zum Abschied hat er mir einen herrlichen Diätplan mit Rechtschreibfehlern geschrieben. Er gibt Frauen wieder die Hand, redet ausgesprochen gern mit meiner Freundin, und er hat nicht einmal den Raum verlassen, als eine Bekannte von uns ihr Kind beim Essen am Tisch stillte. Aber zwischendurch geht es immer wieder um Guantanamo. Alle wollen von ihm wissen, wie es dort war. Guantanamo wird ihn noch lange beschäftigen, das weiß er. Auch nach Jahren können die Traumata noch aufbrechen.
Murat empfindet keinen Hass
Er sei immer noch derselbe, der er vorher gewesen war, sagt Murat, wenn man ihn fragt, ob ihn Guantanamo verändert habe. Und das stimmt in gewisser Hinsicht. Er ist wieder der 19jährige Kindskopf, der auf Motorräder steht, die man nur als Gewichtheber vom Ständer kriegt. Der fasziniert ist von der Welt des Kampfsports und funkelnde Augen bekommt, wenn man mit ihm zum Beispiel Kassetten im Media-Markt kaufen geht: Dann ist er von Videospielen, Playstations und Handys nicht mehr wegzukriegen. Andererseits ist er sehr viel älter als 26 Jahre. Weil er Dinge gesehen, erlebt und ausgehalten hat, die ein Mensch nicht sehen und erleben sollte.
Aber Murat empfindet keinen Hass. Weder gegenüber seinen Folterknechten noch gegenüber deutschen Behörden, die ihn jahrelang leiden ließen, obwohl sie längst wußten, dass er unschuldig war. Nicht einmal gegenüber jenen, die ihn im Zuge des Untersuchungs-ausschusses erneut stigmatisiert haben - er versteht sie nur nicht.
Murat hat ein halbes Jahr bei einem sozialen Projekt der Stadt Bremen mitgearbeitet, die Stelle war zeitlich befristet. Wie es beruflich mit ihm weitergehen soll, weiß er noch nicht so genau. Vielleicht ein kleiner Handel, vielleicht ein sozialer Beruf. Zur Zeit ist er viel unterwegs. Er war bei seiner Buchpremiere in Paris und in Stockholm, demnächst ist er in London und Dublin eingeladen. Ich freue mich für ihn, daß er endlich so vieles nachholen kann.
In dieser Woche erscheint das Buch "Five years of my life" in den USA. Die Rocklegende Patti Smith hat dazu ein Vorwort geschrieben und einen Song über den Bremer Deutsch-Türken gemacht, "Without Chains" heißt der Titel. Interessant ist außerdem der Untertitel der US-Ausgabe: "An innocent man in Guantanamo". Es ist der erste Bericht eines Unschuldigen aus dem berüchtigten Gefängnis auf Kuba.
Unschuldiger Mann, der nicht in die USA einreisen darf
Das ist auch insofern interessant, als Murat in Deutschland immer den Nimbus eines potentiellen Bombenlegers hatte. Was wollte denn der Bärtige in Pakistan? - das war die immer wieder gestellte Frage. Daß Murat sich den Bart erst in Guantanamo lang wachsen ließ, weil es die einzige Freiheit war, die ihm noch geblieben war, und die erwiesene Tatsache, daß er kein radikaler Islamist war, noch zu Taliban Kontakt oder geschweige denn ein Ausbildungslager durchlaufen hatte, traten dabei allzu oft in den Hintergrund.
Bei seiner Buchpremiere am Freitag in der ehrwürdigen New York Public Library wird er nicht dabei sein. Er ist in den USA ein unschuldiger Mann, der nicht einreisen darf. Weil er, wie alle ehemaligen Guantanamo-Häftlinge, den Status eines "unlawful enemy combattant", eines "feindlichen Kämpfers" hat.