Der Kanzler eröffnete den Reformpoker in diesem Herbst mit überraschender Selbstkritik. Gleich zum Auftakt seiner Rede in der Generalaussprache des Bundestags zum Haushalt 2004 wandte sich Gerhard Schröder persönlich an Unions-Fraktionsvize Friedrich Merz, der am Vortag die Bundesregierung aufs Korn genommen hatte. In einem Punkt habe Merz recht, gab der Kanzler ruhig zu verstehen. Rot-Grün habe vor fünf Jahren in der Rentenversicherung den demographischen Faktor abgeschafft - jene Formel, mit der einst die Regierung Kohl die Rentenhöhe an die Altersentwicklung gekoppelt hatte. "Es war ein Fehler"
Im Parlament waren für einen Moment so gut wie alle Abgeordneten perplex. So "einsichtig" hatte man den Kanzler selten erlebt, schon gar nicht in der so genannten Elefantenrunde, die doch fast sprichwörtlich dem "Schlagabtausch" zwischen Regierung und Opposition dient. Merz zollte Schröder in einer Kurz-Gegenrede jedenfalls postwendend "Respekt".
Heiterkeit in der Haushaltsdebatte
Auch Oppositionsführerin Angela Merkel, die knapp eine Stunde nach dem Kanzler redete, kam an Schröders "generösem", wie sie sagte, Eingeständnis nicht vorbei. Herausfordernd blickte sie jedoch sofort zur Regierungsbank und fragte Schröder: "Was lernen Sie daraus?" Sie wolle jedenfalls nicht erleben, dass "Sie in drei bis vier Jahren" hier stehen...Da brach bei Schröder und der Koalition kurzzeitig Heiterkeit aus. Dass Merkel von einem Kanzler Schröder auch in der nächsten Legislaturperiode ausgeht, hätte auch keiner vermutet. Schnell schickte Merkel ein "Manchmal-geht-es-schneller-als-sie- denken" hinterher.
Es war eine sachliche Debatte. 39 Minuten umwarb Schröder die Opposition - sanft wie selten zuvor. Keine Drohungen, falls die Union im Bundesrat Nein zu rot-grünen Reformen sagt. Kein Vorwurf der Blockade. Egal, ob das Thema Gesundheit, Vorziehen der Steuerreform oder Bekämpfung des Terrorismus war - Schröder umgarnte den politischen Gegner: Mit Blick auf die Rentenreform bat er die Union, im Herbst Vorschläge von Regierung und Opposition doch nebeneinander zu legen, "um zu sehen, was man gemeinsam machen kann".
Die Union interpretierte dies dennoch als subtilen Versuch des Kanzlers, sie im Reformpoker unter Zugzwang zu setzen. "Schröder will erreichen, dass nur noch über das Verhalten der Opposition geredet wird, und nicht mehr, was die Regierung eigentlich macht", schimpfte ein hochrangiges Fraktionsmitglied vor dem Plenarsaal.
Merkel war vor ihrer Rede dennoch in einer schwierigen Ausgangslage. Ihr ist bewusst, dass die Bürger der Union eine Blockadehaltung nur schwer verzeihen würden. Andererseits will die Union nicht in Schröders "Konsensfalle" laufen. Die Unterschiede zwischen Regierung und Opposition dürfen sich aus Merkels Sicht nicht verwischen.

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"Ernüchternde Bilanz von fünf Jahren Rot-Grün"
Die CDU-Vorsitzende konterte Schröder mit einer "ernüchternden" Bilanz von fünf Jahren Rot-Grün. "Besser geworden ist so gut wie nichts", meinte Merkel unter Anspielung auf das SPD-Wahlmotto von 1998, dass ein Kanzler Schröder "vieles besser" machen werde. "Sie haben kein Ziel, keine Grundausrichtung. Sie haben Konzept, kein Linie."
Schröder und Merkel ließen sich im Reformpoker noch nicht in die Karten schauen. Beide wissen, dass im November oder Dezember im Vermittlungsausschuss die Nächte lang werden. Mögliche Kompromiss- Linien zeigten sie nicht auf. Merkel referierte die Vorschläge der Union. Nur zur Steuerreform will die Opposition weiterhin kein eigenes Finanzierungskonzept vorlegen. Wenn der Kanzler einen "Kirschkuchen" backen möchte, werde die Union "gerne mitessen", aber die Rezepte nicht zur Verfügung stellen.
Eine Debatte, die noch in den vergangenen Tagen die Gemüter bewegt hatte, fand keine Fortsetzung. Zur Nachfolge von Bundespräsident Johannes Rau äußerten sich weder Schröder noch die CDU-Chefin. Vor der Wahl in Bayern am 21. September wird sich hier nichts Entscheidendes tun. Bei diesem Thema nicht, aber auch nicht im Reformpoker. Erst danach könnte der Herbst "heiß" werden.