Kennzeichen-Urteil "Die Jedermann-Überwachung wird eingestellt"

Von Nicolas Schweers
Verfassungsschützer in Deutschland zeigten sich nach der jüngsten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts optimistisch. Endlich habe die Dauerüberwachung der Autofahrer ein Ende, sagte Datenschutzbeauftragter des Landes Schleswig-Holstein, Dr. Thilo Weichert im Gespräch mit stern.de.

Datenschützer begrüßten einhellig die aktuelle Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zum Kennzeichen-Scanning. Zwar hatten sie mit dem Urteil gerechnet, dennoch sehen sie nun eine Chance, der Überwachungswut der Behörden Einhalt gebieten zu können. "Es ist offensichtlich, dass die bisherigen Gesetzesregelungen gegen unsere Verfassung verstießen", sagt der Datenschutzbeauftragter des Landes Schleswig-Holstein Dr. Thilo Weichert im Gespräch mit stern.de. "Für die Autofahrer bedeutet das ein Ende der möglichen Dauerüberwachung."

Schleswig-Holstein stellt Überwachung ein

Das Bundesverfassungsgericht hatte zuvor die automatische Erfassung von Autokennzeichen für nichtig erklärt. Bisher wurden die Nummernschilder fotografiert und mit einer Software in einem Kennzeichen-Lesegerät verarbeitet. Nach Informationen des hessischen Innenministeriums wurden die rund 300 000 Euro teuren Geräte im vergangenen Jahr bereits 700 Mal eingesetzt. Drei Autofahrer sahen dadurch ihr Recht auf die informationelle Selbstbestimmung gefährdet, legten vor dem Bundesverfassungsgericht Beschwerde ein. Mit Erfolg. Schleswig-Holstein hat den automatischen Abgleich von Autokennzeichen mit Fahndungsdaten mit sofortiger Wirkung gestoppt. Zudem hat das Urteil Signalwirkung für ganz Deutschland. Denn ähnliche Regelungen existieren in insgesamt acht Bundesländern: Neben Hessen und Schleswig-Holstein betrifft dies auf Bayern, Bremen, Brandenburg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz. "Hier muss der jeweilige Landtag die entsprechenden Regelungen aufheben. Die Jedermann-Überwachung wird also kurzfristig eingestellt", zeigte sich Weichert zuversichtlich.

Allerdings räumten die Richter des Bundesverfassungsgerichtes ein, dass die Polizei auch weiterhin Kennzeichen scannen und mit den entsprechenden Datenbanken abgleichen dürfte. Dazu bedarf er allerdings einer Gesetzesänderung. Brandenburg könnte als Vorbild dienen. Das Polizeigesetz dort steht nach Ansicht des Verfassungsrechtlers Alexander Roßnagel und auch der obersten Richter selbst in Einklang mit der Verfassung. Weichert kennt den Unterschied zu bisherigen Gesetzeslage: "Hier werden die Anlässe konkret benannt, wann eine automatische Erfassung eingesetzt werden kann und zudem präzisiert, mit welchen Datenbeständen die gewonnenen Aufnahmen für welche Zwecke abgeglichen werden dürfen. Das sind aus meiner Sicht Mindestkriterien, nach denen die Polizei vorgehen darf."

Kaum Fahndungserfolge

Bundesweit wird nach rund 780 000 Kfz-Kennzeichen gefahndet. Ginge es nach Innenminister Schäuble, dürfte die Polizei dazu auch die Daten der Maut-Brücken einsetzen. Dann könnte bundesweit nach Verdächtigen gefahndet werden. Zu diesem Zweck würden allerdings die Kennzeichen aller Fahrzeuge erfasst, die deutsche Autobahnen benutzen. Nach Ansicht Weicherts ein Schritt mehr in Richtung Überwachungsstaat. "Das Problem liegt auf der Hand: Für jeden, der dann auf Autobahnen unterwegs ist könnte die Polizei ein lückenloses Bewegungsprofil erstellen." Doch zu welchem Zweck? Allein in Hessen wurden im Jahr 2007 über eine Million Kennzeichen automatisch gescannt und mit Fahndungslisten abgeglichen. Allerdings wurden nur wenige Autobesitzer erwischt. Die meisten hatten lediglich ihre Versicherungsbeiträge nicht bezahlt.

Weichert lehnt die Überwachungsmaßnahmen ab. Auch nach einer umfassenden Gesetzesänderung. Zu groß sie die Gefahr, zu Unrecht beschuldigt zu werden. "Sei es nun, weil Daten falsch verarbeitet werden oder aber wegen Lesefehlern der Überwachungsstationen selbst." Ein weiteres Manko ist ebenfalls technischer Natur, denn das System liefert nur Daten über das Kennzeichen und nicht über die Insassen des Fahrzeugs. So könnten Kriminelle schon mit einem gefälschten Kennzeichen das System in die Irre führen.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!

Die Waage zwischen Freiheit und Sicherheit

Derlei Kritik lässt Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) unbeeindruckt. Das Urteil habe "keinerlei Auswirkungen auf Diskussionen auf Bundesebene". Dies betreffe weder die geplante Erweiterung der Zuständigkeiten des Bundeskriminalamts im BKA-Gesetz noch die Strafprozessordnung, sagte Zypries in Berlin. Parlamente hätten den Hang, einen möglichst breiten Schutz der Bevölkerung zu gewährleisten und gerieten daher öfter mit Karlsruhe in Konflikt, sagte Zypries. "Es geht um das Austarieren von Freiheit und Sicherheit". Zu diesem Zweck müssten die Landesministerien nun ihre Gesetze überarbeiten oder die entsprechenden Normen streichen.

Mit Material von AP