Das Zimmer im Bonner Maritim- Hotel war präpariert für ein Fotoshooting der besonderen Art. Am 27. März dieses Jahres - ein strahlend schöner Tag - traten die Journalisten in eine Dunkelkammer, nachmittags um vier. Vorhänge dichteten den Raum ab, ließen keinen Sonnenstrahl hinein. Lediglich einige Tischlampen verbreiteten schummrigen Schein.
Ein Fax vorab hatte den Fotografen Paul Schirnhofer angewiesen: kein Tageslicht, nur Glühlampen. Als sich Schirnhofer versehentlich mit seinem Stativ in der Gardine verfing und durch einen Spalt Sonne ins Zimmer fiel, wich die Frau, die er porträtieren wollte, ängstlich zurück und spreizte beide Hände schützend vor dem Gesicht.
Hannelore Kohl mied in den 15 Monaten vor ihrem Tod das Tageslicht. Ihr Powerwalking absolvierte sie spät am Abend, tagsüber blieben die Rollläden ihres Hauses in Oggersheim häufig geschlossen. Sie leide an einer »Lichtallergie« und müsse starke Schmerzen ertragen, sagte die Gattin des Ex-Bundeskanzlers. 1993 habe sie Penicillin verabreicht bekommen und nicht vertragen. Seit dem vergangenen Jahr habe sich ihr Zustand verschlimmert. Das sei auch der Grund, warum sie Ende Mai nicht zur Hochzeit ihres Sohnes Peter in die Türkei habe fahren können.
Und jetzt der Selbstmord. Die Erklärung aus dem Büro Kohl lautete: »Leider hatten jahrelange intensive ärztliche Bemühungen im In- und Ausland keinen Erfolg, da ihr Fall von Lichtallergie äußerst selten und kaum medizinisch erforscht ist. Aufgrund der Hoffnungslosigkeit ihrer gesundheitlichen Lage entschloss sie sich, freiwillig aus dem Leben zu scheiden.«
Lichtallergie kein Fachbegriff
Das klingt plausibel. Doch den Begriff der Lichtallergie gibt es in der medizinischen Fachliteratur nicht. Hautärzte reden zuweilen davon, wenn bei einem Patienten etwa nach dem Sonnenbad die Haut juckt oder auf dem Dekollet? und den Armen Bläschen sprießen. Lichtallergie, eine für Laien eingängige Diagnose. Sie fasst eine Vielfalt von Symptomen zusammen, die durch UV-Strahlung oder sichtbares Licht ausgelöst werden können. Der Volksmund versteht darunter eine ganze Palette von Hautveränderungen. Professor Constantin Orfanos, Chef der Dermatologie am Universitätsklinikum Benjamin Franklin in Berlin, sagt: »Die einen bekommen leichten Sonnenbrand, andere kriegen Lichturtikariaoder eine chronische aktinische Dermatitis.« Letztere gehören zu den schwersten Formen der berreaktion auf Licht, sind jedoch sehr selten. Die Haut juckt und brennt, aber »unerträgliche Schmerzen«, so Orfanos, verursachen diese Krankheiten nicht. Und: »Keine der so genannten Lichtallergien ist so dramatisch, dass die Patienten nur abends oder nachts aus dem Haus gehen können.«
Lediglich Albinos, deren Haut nicht durch Pigmente geschützt ist, müssen die Sonne meiden, wie auch Kinder mit Xeroderma pigmentosum, der Lichtschrumpfhaut. Wegen eines angeborenen genetischen Defekts des natürlichen UV-Schutzschildes
fräsen Sonnenstrahlen Pigmentflecken und Tumoren in ihre Haut. Diese Kinder müssen Schutzkleidung tragen wie Astronauten, dürfen tatsächlich nur nach Sonnenuntergang vors Haus, liegen regelmäßig auf dem Operationstisch, damit ihnen bösartige Geschwulste aus der Haut geschnitten werden - und sie sterben meist früh.

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Die Begründung, Penicillin habe die Lichtallergie bei Hannelore Kohl verursacht, löst bei Experten Kopfschütteln aus. Anders als das Antibiotikum Tetracyclin scheint Penicillin nämlich nicht phototoxisch zu sein, das heißt, Licht provoziert nach der Einnahme des Bakterienkillers keine Hautreaktionen. Zudem scheidet der Körper phototoxische Medikamente nach einer bestimmten Zeit wieder aus, und die Patienten können danach wieder in die Sonne. »Es gibt keine Hauterkrankung - auch wenn sie noch so selten sein sollte -, die zu dem passt, was ich über Hannelore Kohl gehört habe«, sagt Professor Herbert Hönigsmann, Spezialist für Lichtbiologie von der Universitätsklinik für Dermatologie in Wien.
Experten vermuten Angststörung
Experten vermuten eine Angststörung, die, über viele Jahre entstanden, sich gegen das Licht richtete und die Sonne zum Feind werden ließ. Der Selbstmord aus kühlem Kalkül, aus reiflicher Abwägung und negativer Beurteilung dessen, was am Leben noch lebenswert ist, ist selten. Aber es gibt ihn. Ist Hannelore Kohl ein solcher Fall?
Michael Stark, Chefarzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Hamburg, erlebt es häufig bei depressiven Patienten, dass sie wie gewandte Schauspieler bis zum Schluss äußerlich relativ gut an die Erwartungen ihrer Umwelt angepasst sind. Aber für den Fachmann ist eine solche Fassade schnell zu durchschauen.
Stark fragt sich, warum die Möglichkeit einer Depression bei Hannelore Kohl offenbar ignoriert wurde. Angesichts der Kette belastender Lebensereignisse in ihren letzten Jahren wäre es ein Wunder, wenn sich nicht eine depressive Komponente in ihre psychische Verfassung eingeschlichen hätte. Eine solche seelische Talfahrt kann sich dann auch noch dadurch beschleunigen, dass in Zeiten von Krisen alte Narben wieder aufbrechen.
Von »Vulnerabilität«, der Verwundbarkeit eines Menschen, sprechen die Psychiater. Und die schwere Kindheit, die Hannelore Kohl erlebte, die frühe Begegnung mit Kriegsgräueln und selbst erlittener Gewalt, hatte auf ihrer Seele mit Sicherheit solche Narben hinterlassen. Aber Schwäche ließ sie sich nie anmerken, Stärke trug sie wie einen Schutzschild vor sich her. »Aufgeben ist das Letzte, was man sich erlauben darf«, sagte sie noch im März der »Welt am Sonntag«.
Doch da kann nicht mehr viel Stärke gewesen sein, in diesem von Krisen, Verrat, Schmerzen und Einsamkeit gebeutelten Leben. Und selbst bei stärkstem Willen sind Menschen in solcher Lage durch jede weitere Belastung so erschütterbar, dass die Bruchstelle schnell erreicht werden kann. »Es ist die Tragik dieser Menschen«, sagt Professor Stark, »dass ihr starker Wille sie daran hindert, sich rechtzeitig um die Hilfe anderer zu bemühen. Und die anderen schätzen sie wegen dieses starken Willens oft so ein, dass sie keine Hilfe brauchen.«
Selbstmorde aus »heiterem Himmel« sind extrem selten. Drei Viertel derer, die Hand an sich legen, haben der Umwelt ihre Absicht vor der Tat deutlich signalisiert. Gab es solche Signale von Hannelore Kohl? »Dann«, sagt Michael Stark, »wäre es eine Todsünde gewesen, sie allein zu lassen.«
Anika Geisler / Peter Sandmeyer