Opel-Arbeiter "Die Panik, ins soziale Nichts zu fallen"

Schlosser Andresen fürchtet, in nur einem Jahr nach unten durchgereicht zu werden: von 1900 Euro netto auf Sozialhilfeniveau.

Gegen Mittag stand Christian Andresen immer noch vor Tor 1 des Opel-Werkes in Bochum. Seine Schicht war schon seit sechs Stunden beendet. Seine Kollegen hatte er überzeugt, sich nicht zu verstecken und mit vor die Tore zu ziehen. Seine Frau rief an: Wo er denn bliebe? "Bring mir was zu essen", sagte Andresen. "Hier kriegt mich keiner weg, jetzt erst recht nicht."

Seit 14 Jahren arbeitet Bauschlosser Christian Andresen, 36, bei Opel. Die erste Zeit hat er im Rohbau die Karosserien verschweißt, danach im Presswerk, in der Lackiererei und in der Fertigmontage gearbeitet. Seit zwei Jahren ist er in der "Produktionslogistik" von Werk I. Die Modelle Astra und Zafira werden hier gebaut.

"Alleine schon meinem Kind bin ich es schuldig, mir nicht tatenlos alles wegnehmen zu lassen", sagt er tags darauf, als er in seinem Wohnzimmer auf der Couch sitzt. In den vergangenen zwei Tagen hat er bestenfalls eine Stunde geschlafen. Tochter Sophie, 3, hüpft hinter dem Couchtisch auf ihrem Minitrampolin.

"Wir haben gewusst, dass was kommt. Aber niemand hat geglaubt, dass es so schlimm wird", sagt Andresen. Als er vom geplanten tausendfachen Stellenabbau erfahren hat, war das "wie ein Niederschlag beim Boxen. Innerlich ist mir komplett die Lampe ausgegangen." Auch seine zwei Brüder arbeiten im Werk. "Die konnten vor Entsetzen kaum sprechen."

Christian Andresen verteidigt das typische Leben eines Industriearbeiters im Ruhrpott. Knapp 1900 Euro netto verdient er im Monat. Viele seiner Kollegen bekommen nur 1500 Euro. Andresen malocht in der Nacht-schicht. Da gibt es reichlich Zulagen. Doch viel ist auch von seinem Geld am Monatsende nicht mehr übrig. Die 82-Quadratmeter-Wohnung kostet 650 Euro Miete. Den neuen Opel Astra, stahlsilber, stottert er mit monatlich 275 Euro ab. Die Kosten für Versicherungen hinzugerechnet, bleiben etwa 700 Euro zum Leben: Essen, Telefon, Kleidung, Benzin, Spielzeug für Sophie.

Andresen ist zufrieden. Schließlich könne er sich auch so manchen Luxus leisten, sagt er. Die 14 Tage Urlaub in Griechenland, Spanien oder Italien, die sich die Kleinfamilie jedes Jahr gönnt. Seine Dauerkarte bei Schalke 04, vorletzte Reihe, 188 Euro. Und den Breitbandfernseher von Aldi.

"Es ist die Panik, ins soziale Nichts zu fallen", sagt Andresen. Wenn er sich wünscht, nicht bei den angekündigten Kündigungen dabei zu sein, schämt er sich. "Dann trifft es doch meine Freunde, mit denen ich anderthalb Jahrzehnte zusammengearbeitet habe", sagt er und blättert in der Zeitung. Anzeigen von Arbeitssuchenden, vier Seiten, eng bedruckt. "Verzweifelte Menschen, die fast alles machen würden", sagt Martina Andresen. Demnächst könnte auch ihr Mann dazu gehören, fürchtet die 32-Jährige. Sie selbst hat bis zur Geburt der Tochter im Vorzimmer eines Rechtsanwaltes gearbeitet. Heute hat sie nachgefragt, ob sie wieder anfangen dürfe. "Da geht gar nichts", bekam sie zur Antwort.

"Ich habe Angst, dass wir alles verlieren könnten", sagt sie. Im ersten Jahr nach der Kündigung würde das Arbeitslosengeld ihres Mannes bei rund 1500 Euro (80 Prozent des Nettolohns) liegen. Zwölf Monate später, angekommen bei Hartz IV, müsste die Familie mit 829 Euro pro Monat auskommen. Die Miete würde zusätzlich übernommen. "Alles, was wir gespart haben, geht dann den Bach runter", sagt Andresen. Die Sorgen um die Zukunft stürmen im Akkord auf ihn ein.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Und seine Tochter, so hatte er sich geschworen, die soll doch eine unbeschwerte Jugend haben. Er selbst ist als Scheidungskind im Heim aufgewachsen. An die Entbehrungen von damals muss er dieser Tage wieder denken. Seine Sophie soll es besser haben, ihr soll es an nichts fehlen.

Martina Andresen müht sich, ihren Mann zu beruhigen. "Wir schaffen das schon." Leicht fällt es ihr nicht. So schnell wie möglich hatte sie wieder schwanger werden wollen, das war beschlossene Sache. "Aber jetzt ist alles anders", sagt sie, ihre Tränen kann sie gerade noch zurückhalten. "Jetzt müssen wir erst einmal schauen, ob wir zu dritt über die Runden kommen."

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Detlef Schmalenberg