Dieser Schröder. In Schwerin strahlt die Mittagssonne, der Himmel leuchtet blau, und die sanierte Altstadt zeigt sich von ihrer schönsten Seite. Doch Paul Kirchhof hat kaum einen Blick dafür. Mit großen Schritten pflügt der 1,96-Meter-Mann, den Kopf immer ein wenig vorgebeugt, bei einem Rundgang durch die schmalen Gassen, als ob er sich seine unterdrückte Wut aus dem Bauch laufen wollte. An ihm allein hat sich der Kanzler in den vergangenen Tagen hochgezogen - auf dem SPD-Parteitag, im TV-Duell und schließlich in den Umfragen.
Paul Kirchhof versteht die Welt nicht mehr. Bis vor kurzem war er als Experte für Steuervereinfachung allseits geachtet. Er hielt Vorträge, schrieb Bücher und stellte seine Ideen den Ministerpräsidenten aller Parteien vor. Seit er Angela Merkels Schattenfinanzminister ist, ist alles anders. Nun muss er überall hören, seine Pläne seien unrealistisch, unfinanzierbar und ungerecht. Auf SPD-Plakaten prangt gar: "Radikal unsozial."
Dieser Bundeskanzler.
Erst gestern hat er wieder behauptet, "dieser Professor aus Heidelberg" wolle eine "Kopfsteuer". Eine Idee aus dem Mittelalter! "Da frage ich mich", klagt Kirchhof, "sprechen wir noch die gleiche Sprache?" Und dann die Sache mit der Rolle der Frau, da werde er "bewusst fehlgedeutet". In einem Vorwort zu einem Buch habe er die Leistung einer Mutter von zehn Kindern gewürdigt ("Die Mutter macht in der Familie Karriere"). "Und das macht jetzt der Herr Bundeskanzler zu meinem Familienbild."
Oder der Vergleich mit der Autoversicherung. Da habe er in einem Interview "mit der Unbefangenheit des Professors" die Frage erörtert, ob das Ansparen einer Zusatzrente zur Pflicht werden solle "wie bei der Kfz-Versicherung". Wenn nun der Kanzler behaupte, "ich würde Menschen mit Kfz verwechseln, dann haben wir keinen gemeinsamen Verstehenshorizont mehr". Der Rechtsprofessor Kirchhof kündigt dem Anwalt Schröder den "Verstehenshorizont" auf. Damit verhängt der Ex-Verfassungsrichter fast schon die Höchststrafe. "Wer Koch werden will, darf nicht sagen, dass es in der Küche zu heiß sein könnte", holzt Schröder zurück.
Das sieht Kirchhof ganz anders. Wenn die Wahl vorbei ist, möchte er versuchen, "den Stil der Politik ein bisschen zu beeinflussen", auch wenn ihm seine Teamkollegen sagen würden: "Ja, ja, Sie mit Ihrem professoralen Optimismus." Der Richtersohn hat ganz feste Vorstellungen, wie man sich benehmen sollte. Er selbst ist höflich, geduldig und freundlich. Nach dem weichen Handschlag vermittelt er seinem Gesprächspartner den Eindruck, als habe er den ganzen Tag auf ihn gewartet ("Jetzt haben wir Zeit"). Seine Sprache ist ein bisschen blumig ("Wir entlassen die Menschen in den Garten der Freiheit"). Manchmal predigt er fast ("Das Tor ist offen").
Der Mann ist die Personifizierung des südwestdeutschen Bildungsbürgertums: sehr konservativ, tief katholisch, seit 36 Jahren verheiratet, verbeamtet und äußerst belesen. In einer Wahlrede fordert er: "Niemand sollte sich in Zukunft noch vor dem modernen Geßler-Hut des Steuerrechts verbeugen müssen." Um das zu verstehen, muss man Schillers "Wilhelm Tell" kennen, der dem aufgestellten Hut des Landvogtes Geßler die Ehrerbietung verweigerte.
Als zweites von sechs Kindern
ist Kirchhof im Februar 1943 in Osnabrück geboren. Der Vater wird bald nach dem Krieg Zivilrichter, die Mutter bleibt nach einem abgebrochenen Medizinstudium zu Hause. Sie prägt sein fast mythisches Mutterbild: "Sie hat sich sehr darum bemüht, eine große Familie mit dem Gehalt eines Landgerichtsrats durchzubringen. Das war damals nach dem Kriege sehr bescheiden." 1951 geht der Vater zum Bundesgerichtshof nach Karlsruhe.
Immer war er überall der Jüngste, als Professor, als Verfassungsrichter. "Ja, aber das ändert sich. Das Leben entwickelt sich gegen dieses Grunderlebnis", versucht er zu scherzen. "Ich wäre nicht mehr der jüngste Finanzminster."
14 Tage ist der 62-Jährige nun in seinem neuen "strapaziösen Beruf" unterwegs - und noch meilenweit entfernt davon, ein normaler Politiker zu sein. Sonst würde er bei seinem Marsch durch die Schweriner Fußgängerzone mal anhalten, die Passanten, Händler oder Wirte fragen, wie es so läuft. So lange Small Talk machen, bis die Fotografen ein paar schöne Bilder im Kasten haben. Kirchhof interessiert das nicht. Nur eine rote Fußgängerampel vor dem Schloss vermag ihn kurz zu bremsen. Dann eilt er weiter zum Schiffsanleger am See. Zum Empfang haben sich zwei junge CDU-Helfer vom "TeAM Zukunft" (AM wie Angela Merkel) in orangefarbenen T-Shirts aufgebaut. Doch auch hier rauscht er vorbei - ohne Handschlag und Foto.
Jetzt ist er am Ziel. Beim Pressegespräch auf der "MS Schwerin". Der Raum ist so niedrig, dass er fast mit dem Kopf anstößt. An den Fenstern hängen Vorhänge in entsättigtem Grün. Der CDU-Landeschef Jürgen Seidel spricht den Gast als "Professor Kirchbach" an. Dem ist das triste Ambiente egal - er will nur eines: reden, erklären, verteidigen. Ein Versprecher zeigt, dass es in ihm brodelt: "Der Gedanke ist ganz einflach."
Einfach ist die Idee,
flach soll der Steuersatz werden. Wer Einnahmen erzielt, soll darauf Steuern zahlen - ohne jede Ausnahme. Und der Steuersatz kann im Gegenzug auf 25 Prozent gesenkt werden. Für Erwachsene und Kinder gibt es hohe Freibeträge ("8000 Euro ab dem ersten Schrei"), und ansonsten werden Löhne, Gewinne und Zinsen gleich besteuert. Kirchhof findet das gerecht, die deutliche Mehrheit der Deutschen nicht.
Überzeugungsarbeit ist nötig. Wenn der Professor doziert, ist er in seinem Element. Seine langen Arme breitet er aus wie die Schwingen eines Albatros. Wenn von "höheren Steuereinnahmen" die Rede ist, durchstößt der Zeigefinger fast die Decke. Wenn er fordert, dass der Bürger seine Steuererklärung wieder guten Gewissens unterschreiben können muss, malt seine rechte Hand die Paraphe in die Luft.
Paul kommt aufs altsprachliche Bismarck-Gymnasium, die Schule der Richter-, Anwalts- und Ärztesöhne. "Uns wurde gepredigt: Ihr seid eine Auslese", erinnert sich Mitschüler Eckart Klein, heute ebenfalls Juraprofessor. In der Mittelstufe war Kirchhof zunächst ein "stiller Bub", berichtet Biologielehrer Erich Spörle. "In der Oberstufe wurde er zum Überflieger", sagt Mitschüler Detlef Fels, heute Geschäftsführer einer Pharmafirma. Deutsch, Geschichte, Philosophie - da glänzt der Schlaks, der "mit Begeisterung" Basketball spielt. Zum Abitur 1962 bekommt er einen Preis für seine Leistungen in Geschichte: "Ein Philosophielexikon. Das habe ich noch heute."
Zum Abschluss will die Schule in einem Fragebogen wissen, was die Abiturienten werden wollen. "Professor und Verfassungsrichter", antwortet Kirchhof. Das Erstere erreicht er mit 32, das Zweite mit 44 Jahren. So viel Zielstrebigkeit ist ihm heute offenbar ein bisschen peinlich. Er habe die Umfrage "indiskret" gefunden und die Antwort deswegen als "Provokation" geschrieben, beteuert er.
Mit dem Wahlprogramm der Union hält sich der Schattenminister nicht lange auf. CDU/CSU versprechen darin, den Eingangssteuersatz von 15 auf 12, den Spitzensteuersatz von 42 auf 39 Prozent zu senken. "Ich bin sicher, dass wir bei der konkreten Arbeit entdecken, es ist noch viel mehr möglich." Er sehe seine Aufgabe darin, "Dynamik" reinzubringen. Er habe eine Rolle in Merkels Team: "Ich muss der tägliche Beunruhiger sein."
Das zumindest ist ihm gelungen. Sogar in Schwerin wollen die Journalisten alles über die "Liste" der angeblich 418 Steuervergünstigungen wissen. "Gibt's die? Haben Sie die? Kennt Frau Merkel die?"
"Frau Merkel kennt sie nicht, und sie muss sie auch nicht kennen", beteuert Kirchhof und schaut treuherzig durch seine randlose Brille. Die Liste gebe es, aber sie werde nicht veröffentlicht. Der Professor mutiert zur multiplen Persönlichkeit. Der "Wissenschaftler Kirchhof" ist für Transparenz ("Das steht alles in meinem Buch. Schlagen Sie es auf"), der "Mann, der das Wort zur Tat machen will", bevorzugt Diskretion ("Ich will die öffentliche Debatte nicht in Verwirrung bringen").
So ist die Sache einfach
und doch kompliziert: Steuervergünstigungen sind nicht geheim. In Subventionsberichten, Sparlisten und Steuerreformkonzepten sind sie aufgelistet, von der Eigenheimzulage über die Pendlerpauschale, den Sparerfreibetrag bis zu den Zuschlägen für Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit. Kirchhof hat sie in seinem Heidelberger Institut Gesetzesziffer für Gesetzesziffer zusammentragen lassen. Aus der Steuerfreiheit für Zuschläge wurden so plötzlich sieben Vergünstigungen, weil im Steuergesetz auch die Vergünstigungen für Arbeit an Weihnachten und Silvester genannt werden. Dabei sind 418, nach jüngster Zählung sogar 427 Ausnahmen, zusammengekommen.
Offen redet Kirchhof über sein Dilemma: Die Union verspricht für die nächste Wahlperiode eine Senkung der Steuersätze auf 12 bis 39 Prozent. Zur Gegenfinanzierung sollen viele Vergünstigungen gestrichen werden, aber auch einige erhalten bleiben, wie etwa eine verringerte Pendlerpauschale. Würde seine komplette Liste schon 2007 abgearbeitet, so schwant ihm, dann wäre das "eine gewaltige Steuererhöhung". Die will er aber nicht und vor allem keine öffentliche Debatte darüber. Gern möchte er sich "Ausnahmen in Reserve" halten, um ab 2009 die Steuersätze weiter zu senken - am liebsten auf 25 Prozent.
Ob Kirchhofs Kalkulationen aufgehen, kann niemand genau überprüfen. Bei Fragen nach der Finanzierbarkeit weicht der Reformer aus. Die Leiter der Steuerabteilungen aller Finanzministerien haben für das erste Jahr ein Loch von 43 Milliarden Euro ermittelt, langfristig fehlen mehr als zehn Milliarden jährlich.
Dass es Lücken bei der Finanzierung gibt, kann sich jeder Steuerzahler ausrechnen. Ein Spitzensteuersatz von 25 Prozent mit Freibeträgen von 8000 Euro entlastet alle Bürger - am stärksten die Spitzenverdiener. Draufzahlen würden nur bisherige besonders eifrige Steuertrickser. Aber reicht das, um die Entlastung für den Rest zu finanzieren? Wer zahlt noch drauf? Die Kapitalanleger? Die Vermieter? Die Unternehmer? Zumindest in den Wirtschaftsverbänden wird das befürchtet. Allein die Verschlechterung der Abschreibungsbedingungen würde Milliarden kosten, vor allem bei den investierenden Unternehmen. Doch um den Sieg der Union nicht zu gefährden, haben die Steuerexperten von ihren Chefs einen Maulkorb bekommen.
Kirchhof weist ohnehin alle bisherigen Zahlenspiele zurück. "Es ist gerechnet worden, ohne mein Bilanzrecht zu kennen", sagt er und wischt mit der Hand übers Mikrofon. Um zu beweisen, dass sein Konzept nicht mehr koste, als es einbringe, "brauche ich das Instrumentarium des Bundesfinanzministeriums. Und wenn ich dieses habe, werde ich es Ihnen sehr präzise ausrechnen, dass es stimmt." Plötzlich wirkt der große Missionar wie ein kleinkarierter Rechthaber. Eitelkeit ist Kirchhof nicht ganz fremd. Indirekt gibt er das zu: Wenn es die Chance gebe, das, was man theoretisch erdacht habe, zu wesentlichen Teilen demnächst im Bundesgesetzblatt zu lesen, dann nutze man sie - "einen Juristen interessieren solche Fragen".
Und Jurist ist er durch und durch. Schon am Abendbrottisch der Eltern wurde heftig über Rechtsfragen diskutiert. "Wenn der Vater Richter ist, dann kriegt man als Kind einiges mit", erinnert sich Ferdinand Kirchhof, der sieben Jahre jüngere Bruder, Jura-Professor in Tübingen. Der Vater war am Bundesgerichtshof Anfang der 60er Jahre vor allem mit Nazi-Morden und Auschwitz-Prozessen befasst. Seinen Sohn Paul schickte er in die Verhandlungen ("Hör dir das an"). Abends wurde über Schuld und Sühne gesprochen. "Da habe ich in sehr jungen Jahren sehr viel praktische Jurisprudenz in den großen Fragen miterlebt und damit gelernt", sagt Kirchhof.
Trotzdem hört er
1962 in Freiburg neben Jura zunächst noch Germanistik. Doch dann habe er entdeckt, "dass die Sprache dann am interessantesten ist, wenn sie Rechtsverbindlichkeiten überbringt". Als Student und Assistent spielt er eifrig Fußball ("Darf ich das sagen? Linksaußen!"). Bei den katholischen Cusanus-Stipendiaten stürmt er für die Mannschaft "Geist" - häufig gegen das Team "Natur", in dem der angehende Physiker Oskar Lafontaine kickt. Nach seiner Erinnerung habe "der Geist immer gewonnen", was Lafontaine aber bestreitet: "Da habe ich eine andere Erinnerung."
1968 demonstriert Kirchhof nicht. Im Gegenteil: In Heidelberg bewacht er später sogar nächtens die Bücher im juristischen Seminar. Er steht eher auf der "bürgerlichen Seite des Lebens". Er promoviert und heiratet seine Frau Jutta, die er fünf Jahre zuvor auf einem Tanzvergnügen in München kennen gelernt hat. Während seines Referendariats ist die Grundschullehrerin sogar "die Hauptverdienerin der jungen Ehe". Nach der Geburt des zweiten Kindes gibt sie den Beruf auf. Kirchhofs Kollege und Freund Josef Isensee glaubt: "Jutta ist die Kraftquelle seines Lebens." Die engagierte Katholikin besucht heute als "Grüne Dame" Querschnittsgelähmte im Krankenhaus und ist im Vorstand der Heidelberger Caritas.
Von den vier Kindern, zwei Söhnen und zwei Töchtern, haben drei gleichfalls Jura studiert. "Na ja", sagt Kirchhof, "Dynastie würde ich nicht sagen, aber das Rechtliche ist bei uns stark ausgeprägt." Kein Wunder, dass der Verfassungsrichter Kirchhof zwischen 1987 und 1999 in Karlsruhe zu einer Art Leithammel avanciert. "Es war unglaublich, wie sich die anderen Richter zusammengerottet haben, um ihm Paroli zu bieten, um dann eine halbe Stunde später doch für ihn zu stimmen", erinnert sich ein Mitarbeiter.
Die von ihm bearbeiteten Entscheidungen zwangen die Regierung etwa, das steuerfreie Existenzminimum zu erhöhen und das Kindergeld aufzustocken. "Deutschlands teuerster Richter", klagt der damalige Kassenwart Theo Waigel. "Wenn ich Finanzminister werde, dann sorge ich dafür, dass Karlsruhe nie wieder solche Urteile fällen muss", verspricht der Jung-Politiker Kirchhof heute.
Wenn er Finanzminister wird.
Aber wird er das? Die Euphorie des Dortmunder Wahlparteitages, wo Merkel ihn anspornte ("Wer nicht wagt, der nicht gewinnt"), ist verflogen. Wer wagt, kann auch verlieren. Viele Politiker von Union und FDP gehen auf Distanz. Plötzlich lobt Merkel öffentlich wieder Friedrich Merz. Der Quereinsteiger ist dünnhäutig geworden: "Ich gerate ins Fadenkreuz der öffentlichen Speerspitzen." Seine Ambitionen schränkt er ein: "Meine Chance, mein Platz wäre in einer schwarz-gelben, nicht in einer großen Koalition."
Vor zwei Jahren hatte er auf die Frage, ob er Finanzminister werden wolle, dem stern gesagt: "Nein. Jeder muss seine Begabungen kennen." In der Sache Kirchhof könnte Kirchhof Recht behalten.