Bundestags-Kandidatur Jetzt fängt Boris Pistorius nochmal ganz unten an

Boris Pistorius
Will in den Bundestag: Boris Pistorius (SPD).
© Imago Images
In einem Freizeitheim in Hannover lässt sich Boris Pistorius als Kandidat für den Bundestag aufstellen. Dahinter steckt ein größerer Plan. 

Große Dinge beginnen oft im Kleinen. Deshalb steht Boris Pistorius an diesem Nachmittag auf der Bühne des Stadtteilzentrums Ricklingen.

Vor einer Woche ist der Bundesverteidigungsminister ins norwegische Bergen gereist, um dort mit seinem Amtskollegen einen U-Boot-Deal zu besiegeln. In den kommenden Tagen wird er in den Irak und nach Jordanien fliegen.  

Dazwischen nun also Ricklingen, ein Bezirk von Hannover, der in Teilen als sozialer Brennpunkt gilt. 111 Genossen und Genossinnen sind zur Wahlkreiskonferenz gekommen, der Saal ist voll. Sie entscheiden an diesem Nachmittag über die Zukunft von Pistorius.

Sollte die SPD nach der vorgezogenen Bundestagswahl nicht mehr Teil der künftigen Regierung sein, wäre es mit dem Ministeramt und den großen Reisen vorbei. Wenn Pistorius in einem solchen Fall weiter Gewicht in der Bundespolitik haben will, gibt es nur eine Möglichkeit: eine Bundestagskandidatur.

"Ein besonderer Tag für mich"

"Es ist ein besonderer Tag für mich", sagt Pistorius als Erstes. Und dass er natürlich aufgeregt sei. Und erleichtert darüber, dass es keinen Gegenkandidaten gibt. 

Dann stellt er sich brav vor ("Für diejenigen, die mich nicht kennen"). Name. Alter. Geboren in Osnabrück: "Aber das ist ja kein Nachteil." Zwei Kinder und Enkelkinder. Verwitwet. Seit einem Jahr "wieder glücklich verheiratet".

Die SPD-Erfolgsformel

Pistorius kennt und kann den sozialdemokratischen Sound. Er ist schon vor 48 Jahren in die Partei eingetreten, hat mit und dank ihr Karriere gemacht.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

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Ein bisschen Arbeiterstolz, ein bisschen Weltläufigkeit, ein bisschen Attacke und eine Menge Demut. Vom "Donner gerührt" sei er gewesen, als er vom Ampel-Aus erfuhr, berichtet Pistorius. Aber "gleichzeitig total erleichtert – weil dieses Gewürge ein Ende hatte". Nebenbei lässt er einfließen, dass ihn die Nachricht auf einem Blitztrip zu seinem französischen Amtskollegen nach Paris erreicht habe, mit dem er sich am Morgen desselben Tages per SMS verabredet habe. Um über den erneuten Sieg von Donald Trump bei den US-Präsidentschaftswahlen zu sprechen. Mehrfach lobt Pistorius Olaf Scholz und macht damit deutlich: Wer hier mit Absatzbewegungen bei ihm gerechnet hat, liegt falsch. 

Bei diesem Thema weicht er aus

Den Elefanten im Raum, den SPD-Streit um die Kanzlerkandidaten-Frage, handelt er mit einem geschickten Ausweichmanöver ab. Es gebe da eine Tischlerei namens "Scholz und Pistorius" im niedersächsischen Springe, die auf ihrer Webseite damit werbe, "gemeinsam Großes" zu schaffen, witzelt Pistorius. Damit sei alles gesagt. 

Er erzählt aus seiner Zeit als niedersächsischer Innenminister, in der er viel in Hannover unterwegs war. Und dass er, der einstige Oberbürgermeister von Osnabrück, im Herzen immer "ein Kommunalpolitiker geblieben" sei. 

Pistorius hätte lieber hier kandidiert

Es ist kein Geheimnis, dass Pistorius am liebsten in Osnabrück angetreten wäre. Doch der Genosse Manuel Gava, der das Direktmandat Wahlkreis Osnabrück 2021 dem CDU-Haushälter Matthias Middelberg abgejagt hatte, wollte nicht freiwillig verzichten. Eine Kampfkandidatur hätte Pistorius aber nicht gut angestanden. 

Also schaute er sich anderweitig um. Und landete im Wahlkreis Hannover Stadt II. Hier macht er niemand unfair Konkurrenz: Zuletzt hatte hier die Parteifreundin Yasmin Fahimi direkt gewonnen, die im Mai 2022 als Vorsitzende an die Spitze des Deutschen Gewerkschaftsbundes wechselte. 

Vor wenigen Tagen wurde auch der Osnabrück Wahlkreis nochmal frei: Gava musste nach Medienrecherchen zugeben, regelmäßig Kokain konsumiert zu haben. Er kündigte an, nicht mehr antreten zu wollen. Für Pistorius kam das freilich zu spät.

Hannover Stadt II ist fest in SPD-Hand

Doch auch Hannover Stadt II ist ein "roter" Wahlkreis. Er ist seit Jahrzehnten fest in SPD-Hand. Achtmal zog über ihn die frühere Bildungsministerin Edelgard Bulmahn in den Bundestag ein. Auch sie ist an diesem Nachmittag für Pistorius ins Stadtteilzentrum gekommen. 

Und noch ein größerer Name ist mit ihm verbunden: 1949 gewann hier Kurt Schumacher, Parteivorsitzender der SPD von 1946 bis 1952.

In seiner Bewerbungsrede zitiert Pistorius Schumacher: "Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit." Dies sei auch sein Motto. Hannover sei seine "zweite Heimat". Aber weil er den Wahlkreis nicht ganz bis ins letzte Detail kenne, seien die örtlichen Genossen so wichtig. "Ihr kennt euch hier besser aus als ich", schmeichelt Pistorius: "Deshalb zähle ich auf eure Unterstützung, ich brauche euch."

Dem Publikum gefällt das, es gibt donnernden Applaus. Auf die wenigen Nachfragen zum nicht eingelösten Wohnungsbau-Versprechen der SPD, dem verschleppten Gewaltschutzgesetz und der Vereinbarkeit von Ministeramt und Wahlkreisarbeit, antwortet der Minister gefällig, ohne mit besonderer Detailkenntnis zu glänzen. Er wird mit 97,2 Prozent der Stimmen gewählt. Nur zwei Sozialdemokraten im Publikum konnte er nicht überzeugen.

Auch auf die Landesliste will Pistorius sich am 4. Januar wählen lassen. Er wäre dann doppelt abgesichert. Noch gibt es intern ein Gerangel um die ersten Plätze. Mit SPD-Chef Lars Klingbeil, Generalsekretär Matthias Miersch, Arbeitsminister Hubertus Heil und Pistorius gibt es gleich vier prominente Genossen aus Niedersachsen, die vorne stehen wollen.

Den Einzug in den Bundestag kann Pistorius trotzdem niemand mehr nehmen. Bliebe Scholz Kanzler, könnte er auf seinen beliebtesten Minister nicht verzichten. Würde Friedrich Merz Kanzler einer Großen Koalition, würde Pistorius vermutlich Außenminister oder Innenminister. Selbst wenn die SPD nicht mehr Teil der Regierung wäre, so würde Pistorius wohl in der Fraktion eine wichtige Rolle spielen. 

Dann könnte er aus der Opposition noch einmal versuchen, das Kanzleramt ins Visier zu nehmen – vier Jahre später.