Religionen Islam made in Germany

Während im Iran Frauen ans Maschinengewehr durften, wird in Deutschland jungen Musliminnen teilweise der Schwimmunterricht untersagt. Daran aber ist nicht der Islam Schuld, sondern dessen oft hobbymäßige Auslegung.

Die Isolation von Muslimen in Deutschland hat gravierende Folgen. Nicht nur, dass in der Diaspora eigene Formen des Islam entstanden sind, auf die die deutsche Gesellschaft mit einer gewissen Hilfslosigkeit reagiert. Sie verstellt auch den Blick dafür, dass der Islam entgegen einem gängigen westlichen Vorurteil keineswegs ein seit Jahrhunderten erstarrtes Gebilde ist.

Dürfen muslimische Schülerinnen am Schwimmunterricht teilnehmen? Dürfen Muslime ihre Frauen schlagen? Müssen Frauen sich verschleiern? Steht das alles so im Koran? Auf solche Fragen haben Islamwissenschaftler gern zwei Antworten: Es komme erstens auf die Auslegung des Korans an und zweitens, ein Blick in die Bibel könne helfen.

Das Kopftuch ist kein großes Thema im Koran

Sonja Hegasy vom Berliner Zentrum Moderner Orient sagt: "Es gibt zwei Stellen im Koran, die sich auf das Kopftuch beziehen und dass sich Frauen vom Kopf bis zu den Fußknöcheln bedecken sollen. In der Bibel gibt es aber viel mehr solcher Stellen."

Bekim Agai von der Universität Bonn arbeitet mit dem Schwerpunkt religiöse Entwicklung in der modernen Türkei. Er verweist auf die Modernisten im Islam, die sagten, dass die Bekleidungsvorschriften zunächst nur für Frauen des Propheten Mohammed selbst gegolten hätten.

Die Frage, ob damit alle Frauen gemeint seien, könne aus dem Koran lediglich abgeleitet werden. Eine Anforderung gebe der Koran nicht direkt her. Die Kleiderordnung gehöre aber für viele muslimische Einwanderer zu ihrer "islamischen Kultur". In der Diaspora allerdings würden solche Symbole unter Hinweis auf die Identität zusätzlich aufgewertet.

Die Auslegung des Korans führt in islamischen Ländern selbst zu höchst unterschiedlichen Auswirkungen, sagt Sonja Hegasy. So gebiete der Koran, dass sich Muslime um Bildung bemühen und dafür Beschwerlichkeiten in Kauf nehmen müssten. So gebe es im erzkonservativen Saudi-Arabien, wo Studentinnen getrennt von Studenten lernten, einen höheren Anteil von Frauen in naturwissenschaftlichen Berufen als in Europa.

"In der Türkei von der Kanzel gejagt"

Bekim Agai hat ein anderes Beispiel: "Im Iran durften Frauen für die islamische Revolution ans Maschinengewehr, in Saudi-Arabien dürfen sie nicht Auto fahren, und in Deutschland dürfen manche Mädchen nicht zum schulischen Schwimmunterricht."

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Er verweist auf einen hier zu Lande herrschenden "Hobby-Islam". Der sei dadurch entstanden, dass es in Deutschland auf Grund behördlicher Entscheidungen einen qualifizierten Islam-Unterricht nicht gibt. Das Vakuum werde von Leuten gefüllt, die sich zur Geistlichkeit berufen fühlten, die aber "in der Türkei sicherlich als weltfremd von der Kanzel gejagt" würden. Diese Islam-Vertreter könnten aus Mangel an qualifizierten Kritikern in Deutschland Auslegungen des Korans verbreiten, die ihnen in der Heimat niemand durchgehen lassen würde.

Patriarchat: Im Christentum wie im Islam verankert

In der arabischen Welt gilt ebenso wie im traditionellen Christentum die Vorrangstellung des Mannes. Das Patriarchat ist, wie Sonja Hegasy unter Berufung auf die Feminismusforschung sagte, älter als das Christentum und der Islam. Beide hätten wie alle erfolgreichen Religionen vorgefundene kulturelle Gegebenheiten übernommen. So sei zu erklären, dass auch im Islam Männer die Auslegung betrieben und religiöse Ratschläge erteilten.

Der Koran sei dabei nicht alleinige Quelle dieser Auslegungen. Hinzu kämen die in den Hadith-Sammlungen überlieferten Aussprüche des Propheten sowie das Vorbild des Propheten und der Analogieschluss aus dem Vorbild. Allein im sunnitischen Islam gebe es sechs anerkannte Hadith-Sammlungen. Diese komplizierte Kette von Quellen eröffne eine Fülle unterschiedlicher Positionen.

Steinigung nur im Alten Testament

Die Steinigung von Ehebrecherinnen, fügte Bekim Agai hinzu, ist ein gutes Beispiel für das Zusammenwirken verschiedener Quellen. Sie komme nämlich im Koran überhaupt nicht vor - dafür aber im Alten Testament. Praktiziert werde sie jedoch noch heute im Iran und anderen konservativen muslimischen Ländern.

Das ändert nach Angaben von Sonja Hegasy nichts daran, dass in vielen islamischen Gesellschaften Feministinnen seit etwa zehn Jahren versuchen, den Islamisten die vermeintliche Deutungshoheit des Koran zu entreißen. Die auch im Westen publizierende Frauenrechtlerin Fatima Mernissi habe in Marokko Zirkel initiiert, die mit Koran-Zitaten im Sinne einer Liberalisierung argumentierten.

Reformer erhalten keine Unterstützung aus dem Westen

Paradox wirkt nach den Worten Agais, dass die Reformer in den islamischen Ländern von Europa aus kaum unterstützt würden. Was die nach Europa abgewanderten Landsleute zurückstrahlten, seien eher Verhärtungen: "Der Kaplan-Islam hat mit der Türkei ebenso wenig zu tun wie der Islam radikaler Gruppen in Frankreich mit dem gelebten Islam im Maghreb."

AP
Frieder Reimold/AP