Letzte Begegnung mit Richard von Weizsäcker Sein Leben war ein großes Versöhnungswerk

Der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker ist tot. Unsere Fotografin hatte ihn vor wenigen Monaten besucht. Er saß bereits im Rollstuhl und hatte kaum genug Kraft, um länger zu stehen.

Der verstorbene Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat in seiner letzten öffentlichen Äußerung erklärt, im Rückblick auf ein langes Leben bleibe ihm vor allem Dankbarkeit für die Begegnungen mit verschiedensten Menschen - und die Hoffnung, anderen Impulse im Sinne Luthers gegeben zu haben, dem das Zitat zugeschrieben wird: "Wenn ich wüsste, dass morgen der jüngste Tag wäre, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen zu pflanzen."

Weizsäcker Beitrag ist in der aktuellen Ausgabe von Viva erschienen, dem stern-Magazin für Frauen und Männer ab 40. Der Ex-Bundespräsident ist dort einer von elf Prominenten, die sich zu der Frage äußern: Was bleibt von uns, wenn wir einmal nicht mehr sind?

Die Fotografin Bettina Flitner hat ihn dazu im vergangenen Herbst im Auftrag der Initiative "Mein Erbe tut Gutes" in seinem Präsidenten-Büro im Magnus-Haus in Berlin-Mitte gesprochen und fotografiert. Weizsäcker saß bereits im Rollstuhl und wirkte sehr gebrechlich. Nach dem Porträtfoto eilte Bettina Flitner aus dem Haus auf die andere Straßenseite. Dort hatte sie bereits eine Leiter aufgebaut, um Richard Weizsäcker zu fotografieren, wie er aus dem Fenster des Hauses blickt. "Es musste alles sehr schnell gehen, er hatte nicht mehr genug Kraft, um länger zu stehen", erzählt Bettina Flitner.

Hier der ganze Text von Richard von Weizsäcker.

Richard von Weizsäcker

ist 1920 in Stuttgart geboren, erlangte als sechster Bundespräsident hohe Anerkennung im In- und Ausland. Wegweisend war seine Rede vom 8. Mai 1985, dem 40. Jahrestag des Kriegsendes. Den 8. Mai 1945 bezeichnete er darin als "Tag der Befreiung" und veränderte so den Tenor der deutschen Erinnerungskultur. Nach dem Fall der Mauer trat er für ein behutsames Zusammenwachsen von Ost und West ein. Er ist am 31. Januar im Alter von 94 Jahren gestorben.

Ein großes Versöhnungswerk

"Menschen meiner Generation sind, zumal in Europa, vielfach früh, zu früh, mit der Zerbrechlichkeit und Endlichkeit unseres Lebens konfrontiert worden. Krieg und Sterben, Flucht und Zerstörung, später dann die Kenntnis des wahren Ausmaßes der Schrecken und Grausamkeiten und das Nachdenken über die eigene Verantwortung haben uns in jungem Alter nachhaltig geprägt. Die Frage nach dem, was bleibt, was über die eigene Existenz in der Welt wirksam sein sollte, stellte sich nach diesen Erlebnissen und Erfahrungen in ganz besonderem Maße.

Auch ich habe mich immer gefragt: Welche Wege haben wir, um das humane Zusammenleben im Kleinen wie im Großen, zwischen Menschen und Völkern, lokal und global dauerhaft zu sichern und zu entwickeln? Was können, was müssen wir tun, um Krieg und Gewalt zuverlässig zu verhindern?

Welche Lehren müssen wir aus der Geschichte, aus unseren Erfahrungen ziehen, welche Verantwortung kommt uns zu?

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

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Die Aufgabe, unser Land nach Nazizeit und Zweitem Weltkrieg physisch, moralisch und politisch wieder aufzubauen, forderte alle Kraft und Anstrengung. Viele eindrucksvolle Menschen haben sich hierfür nach Kräften eingesetzt, in großer Politik und kleiner Nachbarschaftsarbeit, in Wirtschaft, Kultur und den Religionsgemeinschaften. Ein großes Versöhnungswerk! Mir selbst ist stets der Ausgleich mit unseren Nachbarländern, vor allem im Osten, ein besonderes Anliegen gewesen. Nach allen Kräften habe ich mich bemüht, dazu beizutragen.

Schließlich waren es der historische Fortgang, politische Geschicklichkeit und Einsichtsbereitschaft der zentralen Akteure auf allen Seiten und vor allem der Mut unzähliger freiheits- und friedensliebender Bürger, die uns zum Ende des 20. Jahrhunderts in eine glückliche Situation gebracht haben, die fünfzig Jahre zuvor nicht zu hoffen gewesen war. Nunmehr leben wir, hier in Deutschland, in Frieden und guter, freundschaftlicher Gemeinschaft mit allen unseren neun Nachbarn.

"Mir bleibt vor allem Dankbarkeit"

Eng sind wir heute miteinander verbunden, sei es durch die wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit oder durch zivilgesellschaftliche Projekte wie Jugendaustausch oder Städtepartnerschaften. Auch mit unserer Geschichte setzen wir uns gemeinsam auseinander. Das stärkt uns dabei, neue trennende Gedanken zu bekämpfen. Wie wichtig es ist, miteinander zu sprechen, den Kompromiss aktiv zu suchen, Empathie für die Prägungen des jeweils anderen aufzubringen, immer wieder einen langen Atem zu Überwindung von Differenzen zu beweisen, das hat uns die europäische Entwicklung gelehrt.

Die Vergangenheit zu überwinden durch eine aktive Versöhnungsarbeit, bleibt auch künftig eine zentrale Aufgabe von uns allen. Wenn wir um die historischen Prägungen wissen, wenn wir die Verletzungen kennen und in deren Bewusstsein handeln, können wir einen gemeinsamen Weg finden, unsere Interessen und Werte in der Welt zu verwirklichen.

Die Wahrung des Friedens und der Freiheit jedes einzelnen bleibt dabei das überragende Ziel, und die aktuellen Entwicklungen der Welt belegen nachdrücklich, welch zerbrechliche Güter es sind. Der jüngeren Generation stehen hier für uns Alte ungeahnte Herausforderungen bevor. Meine Generation kann hoffen, einige Grundsteine gelegt zu haben, damit auch diese Fragen erfolgreich bewältigt werden können.

Im Rückblick auf ein langes Leben bleibt mir vor allem Dankbarkeit für die Begegnungen mit verschiedensten Menschen, die mir Antrieb gaben und Bereicherung waren, die meinen Blick schärften und mir Handlungswege aufzeigten. Selbst an einer oder der anderen Stelle einen solchen Impuls gegeben zu haben, einen Apfelbaum im Sinne Luthers gepflanzt zu haben, der in die Zukunft trägt, das hoffe ich zuversichtlich.

Die ganze Reihe "Was bleibt - Dem Leben einen Sinn geben" gibt es in Viva Heft 6/2014

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