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Schnauze Wessi! Wenn Christen heimlich Eier haben

Der Osten Deutschlands gilt als weitgehend gottlose Gegend. Wieso, fragen scheinheilige Westdeutsche, dürfen die trotzdem Ostern feiern? Eine Predigt.
Von Holger Witzel

Fast immer scheiden sich die Geister der Aufklärung an ominösen Schwangerschaften, dem Leben nach dem Tod oder einem möglichst anständigen Dasein dazwischen: War Dr. Faust zum Beispiel nur ein normaler Sexist oder tatsächlich vom Teufel geritten, dass er mit Gretchen so schäbig umging? Kann man heutzutage - trotz Roland Kaisers Comeback und Pille danach - noch arglos an Auferstehung und Jungfrauengeburten glauben? Wäre es Maria oder Fausts Magarete in der DDR womöglich besser ergangen, weil man auch gefallene Mädchen in der Produktion brauchte? Auf der anderen Seite: Womit haben Ostdeutsche, die nichts als den grünen Pfeil und die legale Abtreibung mit in die Einheit brachten, das ewige Leben überhaupt verdient?

Das alles sind, liebe Brüder und Western, berechtigte Fragen, und doch wurde Ostern - ich habe es selbst erlebt - auch in der DDR Jahr für Jahr gefeiert. Wie bei euch sah man Weihnachten Leute in der Kirche, die sonst nie da waren. Karfreitag war frei - und die wichtigsten kirchlichen Feiertage keine illegalen Partys. Da könnt ihr noch so dämlich fragen, wie sich das mit dem "staatlich verordneten Atheismus" vertrug.

Vergebung selbst für Westdeutsche

Natürlich war es mit Geschenken nicht so einfach wie heute bei www.ausbeuter.com oder etwa einem Eiphone als Osterei. Es gab kaum Obdachlose oder Kreuzigungen. Auch eine Herberge zwischen Ochs und Esel war schwer vermittelbar, weil sich in Interhotels und LPG-Ställen vor allem Schweine drängelten. Trotzdem konnte die fortschrittlichste DDR der Welt auf- und abgeklärt tun, wie sie wollte - gegen Oster- und Weihnachtsgefühle kam sie nicht an. Sogar ihre Nationalhymne begann mit einer Auferstehung.

Erlöser kommen und gehen und kommen wieder - das war und ist immer die gleiche Frohe Botschaft. Sie galt und gilt für betrunkene Hirten wie für nüchterne Werktätige, für Folterknechte in Golgatha oder Guantanamo, selbst für Steuerhinterzieher aus Bayern. Jesus Christus fragt nicht, ob jemand auch am dritten Sonntag nach Trinitatis im Gottesdienst war, ob er Kirchensteuer und Soli zahlt - oder seinen Ostangestellten immer noch zu wenig Lohn. Selbst Westdeutschen sind mit seinem Tod alle Sünden vergeben. Nicht mal mein zweitbester bester Freund Ludger aus dem Münsterland ist vor dieser bedingungslosen Menschenliebe sicher.

Ludger und die DDR-Lieder

Bis 1992 war er - wie sich das bei ihm zu Hause gehört - Katholik. Ein ziemlich scheinheiliger offenbar, denn seit er im Osten lebt, trägt er seine Verachtung für Kirche und Weihrauch wie ein Ex-Raucher vor sich her. Ludger kann sogar alle DDR-eigenen Weihnachtslieder auswendig, seit er unbedingt Ostdeutscher werden will. Und von ihm mal abgesehen, ist etwa das Lied "Tausend Sterne sind ein Dom" tatsächlich immer noch ein verlässlicher Katalysator, ob jemand "an Weihnachten" oder "an Ostern" sagt. Mich hat es trotzdem verstört, wie leichtfertig er vor Jahren aus seiner Kirche austrat und nicht mal steuerliche Gründe vorschob.

Ich glaube nämlich nach wir vor an Wunder und fast alle biblischen Geschichten. Dass ein Gott Mensch wird, kam mir schon zu DDR-Zeiten plausibler vor als umgekehrt - alle Menschen Kommunisten. Und obwohl ich nie behaupten würde, dass alle Christen in der DDR Märtyrer waren, gehörte für viele doch mehr dazu als ein paar Lippenbekenntnisse zur Firmung oder für Brot für die Welt - um nicht zu sagen: Eier.

Das gefährliche Fach Ethik

Es gab einfachere Wege zu Abitur und Studium. So wie man es heute im Westen schwerer hat, wenn man sein Kind vor Religionsunterricht an Grundschulen bewahren will. Selbstredend waren es westdeutsche Richter am Bundesverwaltungsgericht Leipzig, die kurz vor Ostern eine entsprechende Klage ablehnten. Eine Mutter aus Freiburg wollte den Gottessstaat Baden-Württemberg zwingen, alternativ das gefährliche Fach Ethik anzubieten.

Weil der Marxismus-Leninismus ähnlich fundamentale Züge trug, entwickelten DDR-Bürger schon damals eine gewisse Skepsis gegen Heilsversprechen aller Art. Was im Rückblick mit Opportunismus verwechselt wird, war in Wahrheit religiöse Zurückhaltung - oder wie es im schönsten Satz der Weihnachtsgeschichte heißt: "Maria aber behielt die Worte für sich, und bewegte sie in ihrem Herzen." Diese stille Religionsfreiheit kannte keinen Streit über Kruzifixe und Kopftücher in Klassenzimmern. Und so gehört zur ostdeutschen Glaubensfreiheit eben auch das selbstverständliche Bekenntnis zu keinerlei Bekenntnis.

Der heilige Markt

Die britische Zeitung The Guardian verlieh "East-Germany" deshalb vor ein paar Monaten den schönen Titel "Most godless place on Earth". Der Artikel berief sich auf eine Studie der Universität Chicago und obwohl eine gewisse Faszination mitschwang - "a taste of future" - kann ich das persönlich nicht bestätigen. Wahrscheinlich glaube ich sogar an den gleichen Gott wie Moslems, Juden oder Westdeutsche. Trotzdem lebe ich lieber in einer Gegend, wo Kinder eher selten zu Beschneidungen oder Oralverkehr mit Priestern gezwungen werden. Und vermutlich ist es auch kein Zufall, dass Reformationen wie vor 500 Jahren oder 1989 nicht im Iran, dem Bible Belt der USA oder in Altötting ihren Anfang fanden.

Bis 1990 hingen dennoch viele Ostdeutsche dem Aberglauben an, der Westen sei eine Art Himmel auf Erden. Heute lächeln sie mild über den kindlichen Eifer ihrer Landsleute, die mit selbstgerechtem Zorn ihren Bischöfen goldene Badewannen neiden, aber wie alle Kamele selbst Probleme mit dem Nadelöhr haben. Die immer noch an den Heiligen Markt glauben, aber den Heiligen Martin und Weihnachtsmärkte abschaffen wollen. Denn natürlich waren es Westler, die Ende letzten Jahres Martinsumzüge in "Sonne-Mond-und-Sterne-Feste" umbenennen wollten, weil das Muslime die christliche Bezeichnung als "diskriminierend" empfinden könnten. Bis die angeblich Betroffenen irritiert zurück fragten: Sollten sie künftig auch auf Weihnachtsgeld und den freien Ostermontag verzichten?

Kommt ins gottlose Leipzig

Zur Not können sie alle ins gottlose Leipzig kommen, wo die Kinder der Bundesverwaltungsrichter ab der ersten Klasse auch Ethik statt Religion bekommen, sofern sie dürfen. Wo gerade eine neue Moschee entsteht, über die in Facebook-Gruppen zwar heftig gestritten wird. Dafür aber bauen hier Katholiken, die mit vier Prozent auch nur eine Sektenähnliche Minderheit stellen, unbehelligt eine riesige Kirche - noch dazu am Martin-Luther-Ring. Gegenüber dem größten Bio-Markt von Leipzig hat gerade ein neuer "Burger-King" aufgemacht. Seit 800 Jahren gibt es erstmals einen Ausländer im Thomanerchor. Nicht zuletzt duldet Leipzig sogar einen Oberbürgermeister aus dem Sauerland, den kaum einer wollte oder wählte. Das ist Toleranz!

"Wo der Geist des Herrn ist", schrieb Paulus an die Korinther, "da ist Freiheit". Heute gern als Konfirmationsspruch nachgeplappert räumt der Apostel an dieser Stelle nur mit dem alten Versteckspiel von Mose auf, der sich nach Gesprächen mit Gott stets das Gesicht verhängte, um die anderen nicht mit seiner Erleuchtung zu erschrecken. Jesus und seine Offenbarung leuchtete für Paulus dagegen jedem ein. Und so ähnlich wie Altes und Neues Testament unterscheiden sich offenbar auch alte und neue Bundesländer: Die Einen verstecken sich frömmelnd hinter Religionsunterricht, damit niemand vor ihrer geistlichen Notdurft erschrickt. Die Anderen genieren sich nicht mal für ihre Bedenken und die Abneigung gegen heuchelnde Pharisäer. Womöglich war Jesus im Herzen sogar selbst Ostler: arm, aber großzügig. Verlacht, verraten und verleugnet. Zweifler am Ende - und trotzdem immer ein Freigeist vor dem Herrn. In diesem Sinne gilt natürlich auch Ostern, wenn nicht erst recht: Gib Westdeutschen eine Chance!

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