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Schwarz-gelbe Energiepolitik Der Atomkompromiss - eine Mängelliste

Merkel, Röttgen, Brüderle, sie alle loben sich in höchsten Tönen für den Atomkompromiss. Doch vieles bleibt fragwürdig. Was ist mit der AKW-Sicherheit? Was mit dem radioaktiven Müll? Eine Übersicht.
Von Jennifer Lange und Hans Peter Schütz

Die Kanzlerin bejubelte das neue Energiekonzept als "Revolution". Vizekanzler Westerwelle rühmte ein "epochales" Ergebnis. Umweltminister Röttgen schwärmte von einem "Pfund an Glaubwürdigkeit".

Wie glaubwürdig ist das Eigenlob, wenn man das Energiekonzept der Bundesregierung im Detail prüft? Richtig ist, dass die Stromversorger zusätzlich Geld einnehmen werden. Kritiker sprechen von einem Milliardengeschenk. Gleichzeitig wächst das Risiko eines Störfalls. Und Norbert Röttgen bezahlt für diesen strahlenden Sieg der Atomindustrie mit einer schweren politischen Niederlage. Denn bisher hatte er maximal eine Laufzeitverlängerung von acht Jahren für tolerierbar gehalten.

Die größten Schwachstellen des Energiekonzepts - eine Übersicht.

Die AKW-Laufzeiten sind kaum kalkulierbar

Die älteren Kraftwerke sollen noch acht Jahre am Netz bleiben, die jüngeren Meiler, die nach 1980 gebaut wurden, noch 14 Jahre. Heißt es, offiziell. Das Problem: Im Kompromiss-Papier ist nicht von einer Höchstzahl an Jahren die Rede - sondern nur von Strommengen. Das erlaubt den Energieversorgern, die Ausnutzung flexibel zu gestalten. "Aus den acht Jahren werden somit locker zehn und aus den 14 Jahren bestimmt 16 Jahre", sagt Jochen Stay, Sprecher der Anti-Atom-Organisation "Ausgestrahlt" zu stern.de. Sibylle Centgraf, Referentin der atompolitischen Sprecherin der Grünen, geht sogar von 13 anstatt acht Jahren aus. Der Grund: Die älteren Kraftwerke lägen aufgrund von Störfällen und Überarbeitungen rund 25 Prozent der Zeit still. Werden andererseits Reststrommengen von alten auf jüngere Kraftwerke übertragen, könnten diese bis ins Jahr 2050 am Netz bleiben, prognostiziert Stay.

Die Brennelementesteuer bringt weniger als geplant

Die Atomkonzerne kommen bei der Brennelementesteuer wesentlich günstiger davon als ursprünglich gedacht. Zum einen wird die Steuer auf sechs Jahre beschränkt, was Wirtschaftsminister Brüderle gefordert und jetzt auch durchgesetzt hat. Statt der geplanten 2,3 Milliarden pro Jahr landen in der Kasse von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble unterm Strich lediglich 1,5 Milliarden. Das kommt so: Die Konzerne können die Brennelementesteuer beim Finanzamt als Betriebskosten absetzen, was die Netto-Staatseinnahme reduziert. Das Geld fehlt Schäuble bei der allgemeinen Sanierung des Staatshaushalts.

Die Meiler müssen nicht vor Terror-Angriffen und Flugunfällen geschützt werden

Biblis A liegt in unmittelbarer Nähe zum Flughafen Frankfurt, ist aber weder gegen einen Flugzeugabsturz geschützt noch kann der alte Meiler vernebelt werden. Über die konkrete Nachrüstung in punkto Sicherheit schweigt das Konzept. Von einer Ummantelung der Meiler gegen Flugzeugabstürze ist keine Rede mehr. "Die acht gefährlichsten Atomkraftwerke müssen daher sofort abgeschaltet werden", sagt Tobias Riedl, Energieexperte von Greenpeace zu stern.de. Außerdem würden die alten Kraftwerke nach den heutigen Sicherheitsbestimmungen überhaupt keine Zulassung mehr bekommen, so Riedl.

Die Sicherheitsausrüstung wird vernachlässigt

Überaus vage klingt, welche Nachrüstung bei den Atommeilern konkret stattfinden soll. Dass es ein Sicherheitsproblem gibt, wird durch die sehr unterschiedliche Laufzeitverlängerung bei älteren und neueren Kraftwerken indirekt eingestanden. Aber nichts ist mehr zu hören von Röttgens Ankündigung, alle Reaktoren müssten an das Sicherheitsniveau der drei neuesten Atomkraftwerke angepasst werden. Ursprünglich wollte das Umweltministerium bei zwölf Jahren Laufzeitverlängerung Sicherheitsnachrüstung in Höhe von 20 Milliarden Euro vorschreiben. Jetzt werden diese Kosten auf maximal die Hälfte reduziert. Auch ein gutes Geschäft für die Konzerne.

Die Frage der Endlagerung bleibt ungelöst

Durch die Laufzeitverlängerung wird zusätzlicher hoch radioaktiver Abfall produziert. Dabei ist die Endlagerfrage bisher noch nicht einmal in Ansätzen gelöst. Verbrauchte Brennstäbe müssen weiterhin provisorisch in Zwischenlagern deponiert werden. Von der Atommüllentsorgung ist im Energiekonzept keine Rede. Dabei geht die Umweltschutzorganisation "Bund" davon aus, dass sich die Atommüllmenge bis zum Ende der Laufzeiten verdreifachen wird - von 2200 Tonnen auf 6800 Tonnen.

Die Produktion regenerativer Energien wird ausgebremst

Die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke bremst das Interesse der Energieversorger, in Windparks und Solaranlagen zu investieren. Das reduziert den Wettbewerb auf dem Energiemarkt. Energiesparen und regenerativer Strom gehören eindeutig nicht zu den Schwerpunkten des Konzepts. "Die Regierung tut so, als würde sie beides parallel ausbauen. Dabei müssen Windkraftwerke im Norden und Osten runter gefahren werden, weil Atomstrom die Netze blockiert", sagt Thorben Becker, Energieexperte des "Bund" zu stern.de. Laut Tobias Riedl von Greenpeace hat die Regierung die Chance zur Energiewende verpasst. Für die Stadtwerke lohne es sich nicht mehr in regenerative Alternativen zu investieren. Dabei habe der Druck der drohenden Abschaltung der Atomkraftwerke gerade Bewegung in die starren Strukturen gebracht.

Wärmedämmung bei Wohnungen und Häusern wird die Miete hoch treiben

Bis 2050 sollen Wohnungen und Häuser so saniert werden, dass sie keine Wärme mehr abgeben. Diese energetische Sanierung der Gebäude ist ein Herzstück des Konzepts. Doch es dürfte mit erheblichen Kosten verbunden sein. Die Vollsanierung eines Einfamilienhauses mit 120 Quadratmetern kostet rund 70.000 Euro, teilt die Eigentümerschutz-Gemeinschaft Haus und Grund mit. Allein ein neues Fenster koste 800 bis 1000 Euro. Diese Maßnahmen müssen dann von den Eigentümern oder den Mietern bezahlt werden.

Die Gegner des Energiekonzepts hoffen, dass es im Bundesrat keine Mehrheit findet. Zahlreiche Experten gehen im Gegensatz zur Regierung davon aus, dass der Bundesrat dem Gesetz mit den längeren Laufzeiten zustimmen muss. Und dort hat die Regierung keine Mehrheit. Der frühere Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier hat erklärt, jede Laufzeitverlängerung sei im Bundesrat zustimmungspflichtig.

Von Jennifer Lange und Hans Peter Schütz

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