Wird Russland in die Ukraine einmarschieren oder lässt sich Präsident Wladimir Putin doch noch von den Deeskalationsstrategien des Westens überzeugen? Das diskutieren am Sonntagabend ranghohe Politiker und Politikerinnen im Talk bei Anne Will. Angesichts des drohenden Kriegsrisikos bemüht sich die Gruppe um Einigkeit: Europa, so der Tenor, stelle sich dem Aggressor geschlossen entgegen. Einzig Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht sieht Russland als Opfer. Da ist Streit vorprogrammiert.
Folgende Gäste führen ihre Kriegsvermeidungsstrategien im ARD-Talk von Anne Will aus:
- Norbert Röttgen (CDU-Bundestagsabgeordneter)
- Sahra Wagenknecht (Linken-Bundestagsabgeordnete)
- Constanze Stelzenmüller (Publizistin und Expertin für transatlantische Beziehungen)
- Lars Klingbeil (SPD-Bundesvorsitzender)
- Ursula von der Leyen (CDU-Politikerin und EU-Kommissionspräsidentin)
Lässt sich Putin durch Gespräche besänftigen?
Europa scheint sich in der Kommunikation mit Russland-Präsident Putin mal wieder als zahnloser Tiger präsentiert zu haben. Nach mehreren Treffen – unter anderem mit dem französischen Staatsoberhaupt Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz – scheinen Zehntausende russische Soldaten und Soldatinnen für einen militärischen Angriff in der Ukraine bereitzustehen. Die diplomatische Herangehensweise des Westens scheint gescheitert.
Die ehemaligen GroKo-Kollegen Norbert Röttgen und Lars Klingbeil haben die Hoffnung in die europäische Gesprächstaktik offenbar noch nicht aufgegeben. "Solange es die kleinste Hoffnung gibt, dass wir diese Krise durch Diplomatie abwenden können, müssen wir diesen Weg gehen", erklärt der aus München zugeschaltete Klingbeil. Am Montag telefoniere Scholz ein weiteres Mal mit Putin. Damit sende der Kanzler das Signal, dass Deutschland mit dem Rest Europas vereint sei, so der SPD-Chef. Auch Röttgen setzt zuweilen noch auf eine beschwichtigende Kommunikationsstrategie: "Wenn es zu militärischer Gewalt kommt, wird sie unter Vorwand stattfinden", mutmaßt der CDUler. Durch eine "Politik der Antizipation" müsste der Westen mögliche Ausreden Russland vorwegnehmen und durch Offenbarungen entkräften. Doch ist es dafür nicht längst zu spät?
Von der Leyen: Greifen Russland da an, wo es ihnen wehtut
Die Frauen in der Runde gehen entschiedener vor: "Da werden Vorbereitungen getroffen, die einen schnellen Einmarsch ermöglichen", mahnt Publizistin Stelzenmüller, die gerade erst die Münchner Sicherheitskonferenz begleitet hat. Die Aggressionen von Russland seien längst da, dazu zählten schließlich auch die fortwährenden Drohungen. Immerhin in Brüssel scheint man diese Dringlichkeit bereits mitbekommen zu haben. Das zeigt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in einem voraufgezeichneten Interview, das Will immer wieder in der Runde einspielt. "Präsident Putin hat von Anfang an versucht, Europa zu spalten", erklärt die CDU-Politikerin in der Schalte. "Wir antworten mit dem mächtigsten Hebel, den wir haben." Eine weitere Runde Säbelrasseln? Mitnichten.
Zusammen mit Großbritannien und Kanada habe die EU ein umfassendes Sanktionspaket vorbereitet, droht nun auch von der Leyen. Ihr Ziel: der russische Finanz- und Wirtschaftssektor, der vor allem auf den Export von Energieträgern wie Gas ausgerichtet ist. Bereits in diesem Winter habe Europa ihre Importe so diversifiziert, dass Russland die Gaslieferung ohne größere Probleme stoppen könnte, erklärt die Kommissionspräsidentin. Auch langfristig werden man sich neue Energielieferanten suchen: “Russland hat eine klare Schwachstelle, das ist seine Wirtschaft.”

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Eine Aussicht, die Russland tatsächlich schwer treffen dürfte.

Wagenknecht sieht Russland als Opfer
Doch während der Rest der Runde vor allem über die Härte der Sanktionen gegen Russland sinniert, gibt es eine, die den Konflikt in eine ganz andere Richtung dekonstruiert. "Russland hat kein Interesse, in die Ukraine einzumarschieren", behauptet Sahra Wagenknecht. Stattdessen verteidige Putin in dem Konflikt eigene Sicherheitsinteressen. Ein Nato-Beitritt der Ukraine bedeute, dass US-amerikanische Truppen in direkter Nähe von Russland stationiert würden.
Die Situation sei für Russland bedrohlich, konstatiert die Linken-Politikerin und Anti-Militaristin. Ginge es nach ihr, müsste sich Europa vor allem von den USA distanzieren und Russland als ebenbürtigen Gesprächspartner mit Interessen anerkennen. Unter ihren Talk-Kollegen und -kolleginnen sorgt Wagenknecht damit für eine regelrechte Intervention, für die sich Stelzenmüller sogar einen Zettel zurechtgelegt hat. Diese zerlegt die Argumentation der Linken-Politikerin in einer Reihe von Richtigstellungen innerhalb von Sekunden: Russland habe illegal die Krim annektiert, einen Stellvertreterkrieg in der Ostukraine mit mehr als 13.000 Opfern geführt, in Tschetschenien Gewalt ausgeübt. Es sei absurd, das Land als Opfer zu inszenieren, so Stelzenmüller. "Das einzige, was Russland wirklich bedroht, ist die demokratische Verwandlung der Ukraine."
Talk bei Anne Will: Das Schicksal der Ukraine scheint egal
Tatsächlich scheint das Schicksal der Ukraine in all den strategischen Überlegungen fast zu kurz zu kommen. Nach wie vor ist nicht klar, ob das Land der Nato beitritt und im Falle einer Intervention überhaupt auf Unterstützung aus dem Westen hoffen kann. Fragen lassen vor allem eine Formulierung Röttgens offen: "Wir werden keinen Krieg um die Ukraine mit Russland führen", so der CDU-Politiker. Die angepriesenen Sanktionen dürften dabei in erster Linie eine Positionierung der EU und des Westens sein: Schau her, Putin, wir sind ein starkes Bündnis, du kannst uns nicht besiegen. So ist es in dieser Logik nur folgerichtig, dass jegliche Reaktion lediglich dem eigenen Machtkampf dient: "Wenn Putin einen Krieg mit der Ukraine vom Zaun bricht, dann werden wir reagieren", kündigt von der Leyen an. Für die Ukraine selbst könnte es dann allerdings schon zu spät sein.