Zieht Russland tatsächlich seine Truppen von seiner Grenze zur Ukraine ab, wie es im Moskauer Verteidigungsministerium heißt oder wird die Stärke der Soldaten dort aufgestockt, wie die USA berichten? "Die Truppen können doch nicht einfach aufschweben und davonfliegen. Dafür braucht es Zeit", sagt Kremlsprecher Dimitri Peskow. Militärtransporte gibt es auch auf der Krim. Videomaterial zeigt, wie unter anderem Panzer auf Züge verladen und abtransportiert werden. Von Entspannung aber ist keine Rede. Im Gegenteil.
Truppen von einem Manöver zum nächsten
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte dazu, dass man Bewegungen von Truppen und Kampfpanzern sehe, beweise nicht, dass es einen echten Rückzug gebe. "Sie haben Truppen immer vor und zurück bewegt." Ähnlich interpretiert die Lage auch Valerij Schirjaew, Militärexperte der kremlkritischen russischen Zeitung "Nowaja Gaseta": Es sei nicht so, dass man die Aktionen nicht überprüfen könne, die Frage sei jedoch, "ob nicht im Anschluss an anderer Stelle bereits ein neues Manöver stattfinde – und zwar sehr bald".
Und genau das geschieht auch. Für den Sonnabend hat Russland eine Übung mit ballistischen Raketen angekündigt – unter Führung des Präsidenten Wladimir Putin. Ziel sei es, die strategischen Nuklearwaffen auf ihre Zuverlässigkeit zu testen, wie es im Verteidigungsministerium heißt. Vorwürfe aber, dass das Land eine Drohkulisse aufbaue, weist Putins Regierung stets zurück, entweder mit dem Argument, dass die Bewegung von Soldaten und Militärtechnik im eigenen Land niemanden etwas anginge. Oder mit dem Verweis auf reguläre Übungen, die ganz nach Plan anfangen und auch wieder enden würden.
Das Spiel mit Täuschung und Wahrheit, Schein und Sein, Lug und Trug gehört seit jeher zum Arsenal der Politik in Krisenzeiten. So warnt die Regierung in Washington schon seit Wochen vor einem sogenannten Angriff unter falscher Flagge in der Ukraine. Bevor Moskau die Ukraine angreifen würde, würde es demnach einen Vorwand dafür schaffen – etwa eine Gewalttat, für welche die Ukraine verantwortlich gemacht werde.
Putin spricht bereits von "Genozid"
Vor dem UN-Sicherheitsrat sagte US-Außenminister Antony Blinken, Russland könne nach Einschätzung der US-Geheimdienste einen Angriff auf das Nachbarland "in den kommenden Tagen" anordnen. Er verwies auf von russischen Medien verbreiteten Falschnachrichten, in denen von angeblicher ethnischer Säuberung oder "Völkermord" an russischsprachigen Menschen in der Ukraine die Rede sei. Auch Putin erwähnte nach seinem Treffen mit Bundeskanzler Olaf Scholz, dass im Osten des Landes ein "Genozid" stattfinde. Beweise dafür gibt es allerdings keine.
In einem Akt entwaffnender Offenheit spielte Blinken vor dem Sicherheitsrat ein mögliches Vorgehen Russlands nach US-Einschätzung durch: Moskau werde zunächst einen "Vorwand für einen Angriff" schaffen, eine Gewalttat, für die die Ukraine verantwortlich gemacht werde. Das könnte ein fingierter "terroristischer Bombenanschlag" in Russland, der Fund eines angeblichen Massengrabes in der Ukraine, ein vorgetäuschter Drohnenangriff auf Zivilisten oder "ein falscher oder sogar echter Angriff mit Chemiewaffen" sein. "Russland könnte diesen Vorfall als ethnische Säuberung oder Völkermord beschreiben", so der US-Außenminister weiter.
"Theatralischer Auftritt Russlands"
In einem zweiten Schritt würde die russische Regierung "theatralisch zu Krisentreffen" zusammenkommen und erklären, Moskau müsse "russische Bürger oder ethnische Russen in der Ukraine verteidigen", so der US-Außenminister Blinken. Dann werde der russische Angriff starten – mit Raketen und Luftangriffen, Cyberattacken und dem Vormarsch russischer Soldaten und Panzer auf "Schlüsselziele, die bereits identifiziert wurden". Ziel könnte auch die ukrainische Hauptstadt Kiew sein.
Die US-Regierung hat in den vergangenen Wochen wiederholt mutmaßliche Angriffspläne Russlands öffentlich benannt, einschließlich der Schaffung eines Vorwandes für einen Einmarsch. Washington versucht damit zu verhindern, dass die russische Regierung einen solchen Plan tatsächlich umsetzt. "Wenn Russland nicht in die Ukraine einmarschiert, dann werden wir erleichtert sein, dass Russland seinen Kurs geändert und unsere Vorhersagen widerlegt hat", sagte Blinken. "Das wäre der viel bessere Ausgang als der Kurs, auf dem wir uns derzeit befinden."

Eigentlich ist die Überraschung eine wirksame Waffe, doch schon seit mehr als drei Monaten gelangen immer wieder detaillierte Geheimdienstinformationen an die Öffentlichkeit. Die ungewöhnliche Transparenz hat politisches und militärisches Kalkül:
Dezember 2021: US-Medien berichten über einen Geheimdienstbericht, der eine mögliche russische Militäroffensive in der Ukraine für Anfang 2022 voraussagt. Danach rechnet die Biden-Regierung mit einem Einsatz von schätzungsweise 175.000 Soldaten. Auch das ukrainische Verteidigungsministerium warnt zu diesem Zeitpunkt vor einer "groß angelegten Eskalation" im Januar. Eine Invasion sei möglich, wahrscheinlicher aber, "dass sie eine Krise provozieren, Zugeständnisse von uns erhalten und dann die Krise abbauen".
Mitte Januar 2022: US-Medien berufen sich auf offizielle Angaben aus dem Weißen Haus, wonach die Geheimdienste einen russischen Angriff innerhalb der nächsten 30 Tage für realistisch halten. So gebe es einen starken Anstieg koordinierter Fehlinformationen in den sozialen Medien über von Russland unterstützte Kanäle. Damit wolle Putin die ukrainische Regierung destabilisieren. Die Sprecherin des Weißen Hauses behauptet freimütig, dass Russland "eine Gruppe von Agenten für eine Operation unter falscher Flagge in der Ostukraine vorbereitet hat."
Anfang Februar 2022: Erneut wollen US-Geheimdienste Beweise für die Manipulationsversuche des Kreml gefunden haben. Ein wohl inszeniertes Video zeigt die Folgen eines Explosionsanschlags. Zu sehen: tote und trauernde Russen sowie militärische Ausrüstungsgegenstände, die der Ukraine oder deren Verbündeten gehörten. "Das Video wird veröffentlicht, um eine Bedrohung für die Sicherheit Russlands zu unterstreichen und militärische Operationen zu untermauern", sagt Ned Price, Sprecher des US-Außenministeriums.
Mitte Februar 2022: Laut der "Washington Post" sind sich Regierungsbeamte in mehreren Hauptstädten einig, dass sich Russland in der Endphase der Invasionsvorbereitung befindet. Bei der geplanten Offensive könnten Analysten zufolge bis zu 50.000 Zivilisten getötet oder verwundet und die Kiewer Regierung innerhalb von zwei Tagen gestürzt werden. Es bestehe "eine glaubwürdige Aussicht, dass eine russische Militäraktion noch vor dem Ende der Olympischen Spiele stattfinden könnte", sagt der nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan dem Blatt. Es kursierte sogar ein konkretes Datum für eine Invasion: Mittwoch, 16. Februar.
Das Problem mit der "Megafon-Strategie"
Anthony Faiola, Kolumnist der "Washington Post" nennt das ultratransparente Vorgehen "Bidens Megaphon-Strategie": Washington legt Teil seiner Karten offen auf den Tisch, so dass sich die internationale Öffentlichkeit von der Gefahr, die von Russland ausgehe, überzeugen könne. Die radikale Offenheit hat einen weiteren Vorteil: Sie nimmt Putin die Möglichkeit, im Dunkeln zu agieren, so Faiola. Denn dadurch würden die russischen Pläne – sollte es sie in dieser Form je gegeben haben – null und nichtig. Der Kreml muss sich nicht nur damit herumschlagen, die US-Geheiminformationen zu bestreiten und zu diskreditieren, auch der mögliche Überraschungsvorteil Moskaus wäre dahin.
Wie jede Taktik hat auch Bidens-Megafon-Strategie Nachteile: Die Veröffentlichung von sensiblen Informationen kann für die Quellen und für weitere Operationen gefährlich werden. Richard Gowan, Analyst bei der "International Crisis Group" sagte der spanischen Zeitung "El Pais": "Die Megaphon-Diplomatie könnte es Putin erschweren, nichts zu tun. Doch ein gedemütigter Putin, ist ein gefährlicher Putin."
Quellen: DPA, AFP, "El País", Reuters, "Washington Post", "Politico", Tagesschau