SPD-Streit "Die Debatte hat neurotische Züge"

Für die Konservativen in der SPD kommt es jetzt knüppeldick: Im stern.de-Interview attackiert der hessische SPD-Wirtschaftsexperte Hermann Scheer die Genossen Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier. Außerdem skizziert er seine Vorstellungen von einer möglichen SPD-Minderheitsregierung in Hessen.

Herr Scheer, das SPD-Präsidium hat gestern in einer Erklärung der hessischen SPD Handlungsfreiheit bei der Regierungsbildung zugesichert. Sind Sie zufrieden?

Die Erklärung ist eine Bestätigung dafür, dass sich Andrea Ypsilanti nach einem Scheitern aller Gespräche über eine Koalitionsbildung als Ultima Ratio im Landtag zur Wahl stellen sollte. Wer dann für sie stimmt, erfüllt damit jedenfalls den mehrheitlichen Wählerauftrag, denn Andrea Ypsilanti ist für einen Politikwechsel gewählt worden.

Es gab in der vergangenen Woche eine Menge Aufregung nach dem Bekanntwerden der Äußerungen von Kurt Beck. Wie haben Sie das aufgenommen?

Ich wundere mich über diese Aufregung. Die CDU hat das hoch gepuscht im Vorfeld der Bürgerschaftswahl in Hamburg, und es hat leider auch Geräuschverstärker aus bestimmten Teilen der SPD gegeben. Dabei war es eine Selbstverständlichkeit, was Kurt Beck geäußert hat. Roland Koch hat die Wahl verloren, und da ist es nur normal, dass Andrea Ypsilanti nun im Hessischen Landtag zur Wahl antritt. Das ist die absolut schlüssige Konsequenz aus dem Wahlergebnis. Was gibt es denn sonst für Vorschläge? Den abgewählten Koch etwa weiter amtieren zu lassen, indem Andrea Ypsilanti auf eine Kandidatur verzichtet? Oder eine Große Koalition? Beides wäre der Bruch eines Wahlversprechens.

Waren die Pläne von Kurt Beck in der hessischen SPD bekannt? Oder hat er sie und ihre Genossen damit überrascht?

Wenn sie bekannt gewesen wären, dann hätten sie längst in irgendeiner Zeitung gestanden. Aber warum sollte ich davon überrascht gewesen sein? Viele kluge Kommentatoren haben diese Überlegungen zuvor auch schon so geäußert. Warum sollte ein Parteichef wie Kurt Beck dann also weniger schlüssig argumentieren?

Andrea Ypsilanti hat sich während des Wahlkampfs immer wieder gegen eine Zusammenarbeit mit der Linken ausgesprochen. Ihr Parteikollege Peer Steinbrück wirft der hessischen SPD im Fall einer linken Wahlhilfe Wortbruch vor. Auch andere Sozialdemokraten haben zur Zurückhaltung gemahnt.

Einen vergleichbaren Stimmenchor habe ich noch nicht erlebt. Wo jeder über Hessen mitreden will, was nur dort entschieden werden kann. Man kann doch die hessische SPD jetzt nicht zur Untätigkeit auffordern, wenn andere Wege zur Wahl von Andrea Ypsilanti verschlossen sind. Die Leute haben ja nicht nach Koalitionen gewählt. Sie haben für eine andere Politik gestimmt. Zur Glaubwürdigkeit gehört vor allem, dass man das eigenen Programm umzusetzen versucht. Die Glaubwürdigkeitsfrage darauf zu reduzieren, wie eine Mehrheitsbildung zur Ministerpräsidentenwahl zustande kommt, hat einfach unpolitische oder scheinheilige Züge.

Aber leidet darunter nicht auch die Glaubwürdigkeit von Andrea Ypsilanti?

Schauen sie doch, wie es bei der Bundestagswahl 2005 abgelaufen ist. Die SPD hat versprochen, keine Große Koalition einzugehen. Sie hat es getan. Sie hat versprochen, Angela Merkel nicht zur Kanzlerin zu wählen. Sie hat es getan. Sie hat versprochen, die Mehrwertsteuer nicht zu erhöhen. Sie hat es getan. Wo kämen wir denn hin, wenn jede politische Frage nur darauf reduziert würde, dass ein einzelner Willenspunkt nicht durchhaltbar ist? Die Leute wollen keinen Moralisierungswettbewerb, sondern, dass man ihre Politikwünsche durchsetzt. Alles andere wäre ja auch grotesk. Hinter den Wortbruchvorwürfen steckt eine blauäugige Politikvorstellung, die nur Lähmung bedeuten würde.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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In Hessen werden auch die Minister vom Landtag gewählt. Würden Sie sich auch mit den Stimmen der Linkspartei wählen lassen?

Wenn sich Andrea Ypsilanti vom Landtag wählen lässt, dann setze ich mich selbstverständlich auch derselben Situation aus.

Angenommen, dass Andrea Ypsilanti auch gewählt wird: Können Sie sich eine nicht formell vereinbarte Kooperation mit der Linken vorstellen?

Es geht um eine Minderheitsregierung, und nicht um ein Tolerierungsmodell. In einer Tolerierungssituation gibt es feste Absprachen. Eine Minderheitsregierung ist gegenüber niemand Drittem verpflichtet. Sie wird dann ihre Initiativen vorlegen und um Zustimmung werben - bei allen Fraktionen. Das ist parlamentarische Demokratie. Man kann doch jetzt nicht so tun, als sei die Linkspartei gar nicht gewählt worden. Soll man alle eigenen Initiativen zurück ziehen, weil die Linke ihnen zustimmen könnte? Diese Debatte hat schon neurotische Züge.

Bekommt Hessen also eine SPD-geführte Minderheitsregierung?

Das ist die logische Konsequenz, wenn keine Mehrheitsregierung zustande kommt. Die Entscheidung, ob und wann es dazu kommt, liegt ganz allein bei Andrea Ypsilanti, dem hessischen SPD-Landesvorstand und -parteitag.

Interview: Sebastian Christ