stern.de-Umfrage "Gott, organisiere eine Sozialrevolution!"

Der SPD-Vorstand hat am Montag mit großer Mehrheit die Verlängerung der Zahlung von Arbeitslosengeld I an Ältere gebilligt. Parteichef Kurt Beck hat sich durchgesetzt. Aber ist der Becksche Vorschlag sozial gerecht? Was ist überhaupt gerecht? stern.de hat Sie um ihre Meinung zum Thema gefragt - hier sind die Ergebnisse.

Sozial ist, was Arbeit schafft
CSU-Slogan

Hartz IV ist Armut per Gesetz
Oskar Lafontaine

Was ist soziale Gerechtigkeit? Was sollte die Politik unternehmen? Was können die Bürger tun? Diese Fragen stellte stern.de seinen Leserinnen und Lesern. Innerhalb von wenigen Stunden liefen 70 Kommentare und Emails ein. Die Zuschriften lassen Kritik, Empörung, ja sogar Wut über die Zustände in Deutschland erkennen.

"Lieber und gerechter Gott: Bitte organisiere eine Sozialrevolution und öffne der Obrigkeit Ohren und Herzen", schreibt Hartmut U. Nachdem er 25 Jahre sozialversicherungspflichtig gearbeitet habe, sei er arbeitslos geworden. Nun bekomme er Hartz IV. Im Alter von 58 Jahren habe er keine Chancen mehr, einen Job zu ergattern. Für Hartmut U. bedeutet dies den Abstieg in die Armut - ein Risiko, das sehr vielen Leserinnen und Lesern Angst einjagt. Sie plädieren dafür, die Hartz-IV-Regelsätze anzuheben oder Hartz IV ganz abzuschaffen.

"Lächerliche Rentenerhöhung"

Neben Arbeitslosen gelten auch Rentner als benachteiligt. "Arbeitslose und Rentner haben keine Lobby", schreibt Dieter K. "Für das nächste Jahr sind 1,7 Prozent Rentenerhöhung im Gespräch, ein lächerlicher Betrag angesichts des gewaltigen Aufschwungs und der Preissteigerungen. Wer kämpft für sie um höhere soziale Gerechtigkeit?" Unter welchen Bedingungen manche Rentner leben müssen, schildert Özcan Ü. am Beispiel seiner Eltern: "Mein Vater hat 40 Jahre und meine Muttter 35 Jahre in die Sozialkassen einbezahlt. Nach betriebsbedingter Kündigung erhält meine Mutter bis zu ihrer Rente kein Geld, weder Hartz IV noch andere Leistungen vom Arbeitsamt. Auch wurde eine Frührente abgelehnt. Mein Vater ist Rentner und erhält etwa 950 Euro."

Aus Sicht einiger Leser wird die Bedrohung, als Arbeitsloser oder Rentner in den finanziellen Abgrund zu stürzen, von Unternehmern gezielt ausgenutzt. "Man könnte sagen, dass Hartz IV Anreize zur Arbeitsaufnahme geschaffen hat", schreibt Volker M. "Allerdings gibt es leider zu viele Unternehmen, die diesen Anreiz nutzen, um Arbeitnehmer für billiges Geld zu beschäftigen. Hier entstehen Dumpinglöhne und Arbeitsbedingungen, die an die Industrialisierung im 19. Jahrhundert erinnern." Selbst wer einen gut bezahlten Job hat, sei nicht auf Rosen gebettet, schreiben viele Leser - denn die Belastungen der Einkommen sei seit Jahren gestiegen. In den Mails wird zum Beispiel die Mehrwertsteuererhöhung erwähnt, die Kürzung der Pendlerpauschale, der Wegfall der Eigenheimzulage oder auch die Einführung zusätzlicher Gebühren, zum Beispiel fürs Studium der Kinder. "Der normale Bürger wird kontrolliert klein gehalten á la: Mit wie viel Geld kommt man gerade noch so zurecht", resümiert Dirk F.

"Manager bereichern sich

Der Einsatz von Zeitarbeitern - der in Deutschland im europaweiten Vergleich noch unter dem Durchschnitt liegt - wird als weitere Demontage der sozialen Sicherheit verstanden. "Man sollte die Zeitarbeitsfirmen mit ihren Dumpinglöhnen sofort verbieten - oder die Bedingungen ändern, [sie also dazu zwingen] firmenübliche Gehälter [zu zahlen]", schreibt Karin. Ihr sei von einer Zeitarbeitsfirma ein Job für 1200 Euro Netto angeboten worden - und zwar in "München!!!" In München liegen die Mieten weit höher als in anderen Städten.

Die Kritik an der sozial ungerechten Verhältnissen gründet bei den meisten stern.de-Lesern in der Meinung, dass Kosten und Gewinne nicht fair verteilt seien. Während die Bürger draufzahlen, bereichere sich eine schmale Kaste von Politikern und Managern. "Die sogenannten Leistungsträger (Manager) bedienen sich in skrupelloser Weise und alle Schranken der Scham fallen", schreibt U. Manche Manager, die diese These zu belegen scheinen, tauchen in den Mails und Kommentaren immer wieder auf - sie sind zu Hassfiguren geworden. Darunter Josef Ackermann, Chef der Deutschen Bank und einer der bestbezahlten Manager Deutschlands; Jürgen Schrempp, ehemals Vorstandvorsitzender von Daimler-Chrysler, der Milliardenverluste mit verursacht hat, aber gleichzeitig ein reicher Mann geworden ist; auch Ex-Kanzler Gerhard Schröder, der nun für Gazprom arbeitet, und die Chefs der Energieunternehmen werden genannt. "Früher gab es mal Unternehmer. Die haben ordentlich verdient, sich aber auch verantwortlich gegenüber ihren Beschäftigten gefühlt", schreibt Michael G. "Heutzutage gibt es Manager, die mit Geld anderer Leute spielen. Und Verantwortung kennen die nur gegenüber ihrem eigenen Bankkonto."

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!

"Wir leben im Enteignungsstaat"

Nur vereinzelt wird dieser "common sense" durchbrochen. Ein Minderheit von Lesern vertritt die Auffassung, der Einzelne trage die Alleinverantwortung für sein Schicksal. "Wer ein Managergehalt verdienen will, soll schauen, dass er einer wird uns ansonsten aufhören zu jammern", schreibt DooDoo. "Es wird immer Ungerechtigkeiten geben und jeder Versuch, durch ständiges umverteilen alle happy zu machen, bestraft nur Fleißige und unterstützt Transferempfänger", meint Christoph. Auch Elke W. sträubt sich dagegen, dass Leistungsträger die "Zeche der angeblichen Fairness zahlen müssen." Wir lebten in einem "wild wütenden Verteilungsstaat", schreibt sie, "oder sogar besser: Enteignungsstaat".

Viele Leserinnen und Leser verweisen indes darauf, dass die Verteilung von Geld nur ein Aspekt der sozialen Gerechtigkeit ist. In ihrer Vorstellung spielt zum Beispiel auch die Frage eine Rolle, ob die Menschen eine Chance haben, sich aus- und weiterzubilden und beruflich aufzusteigen. Konrad R. hat dazu eine klare Meinung: "Die Schule funktioniert nur, wenn im Hintergrund akademisch gebildete Eltern die erbärmlichen Defizite ausgleichen, die durch überholte Strukturen, unmotivierte, pädagogisch, methodisch und didaktisch überforderte Lehrkörper, staatlich erarbeitete, überfrachtete Lehrpläne und katastrophale Lehrbücher und Lernmaterialien produziert werden." Margret F. ist mit dem Bildungswesen ebenfalls unzufrieden: "Wenn nicht endlich das Bildungssystem hier revolutioniert wird, dann haben wir bald ein Volk von komplett Blöden, und das scheint die Politik wohl auch zu wollen. Dann brechen für die Geldscheffler die schönsten Zeiten an, da können sie allen erzählen, im Himmel ist 'ne Käsehandlung!"

"Respekt statt Ellenbogen"

Für die Politik gibt es aus Sicht der stern.de-Leserinnen und -Leser also reichlich zu tun. Mehrheitlich plädieren sie dafür, Mindestlöhne einzuführen, Hartz IV-Sätze und Renten anzuheben, die Arbeitnehmer zu entlasten, die Managergehälter zu begrenzen und das Bildungswesen besser auszustatten. Aber sie zupfen sich auch an der eigenen Nase - mit dem Hinweis darauf, dass soziale Gerechtigkeit ein Wert ist, der von allen wieder stärker gelebt werden müsse. René S. hat die Handlungsanleitung für die Wiederherstellung von sozialer Gerechtigkeit in seiner Mail exemplarisch ausformuliert: "Respekt statt Ellenbogen; Mitgefühl statt Sozialdarwinismus; menschliche Nähe statt Isolation; Kooperation statt Konkurrenz."

Aufgezeichnet von Lutz Kinkel