Heute abend sollte man vor allem alle Bürger in Deutschland grüßen", sagte Christian Wulff, als er es dann doch noch ins Amt des Bundespräsidenten geschafft hatte. Er fand: "Ende gut, alles gut." Nichts ist gut. Die ganztägigen Wahlversuche waren eine Demonstration genau der Art von Politik, die die Leute satt haben. Zu besichtigen waren alle Spielarten der Heuchelei: Das fing bei Guido Westerwelle an, der verkündete, nicht bei seinen Liberalen säßen die Heckenschützen gegen Wulff, sondern bei der Union.
Politik und Kabarett werden eins
Woher weiß er das eigentlich? Angela Merkel, die eigentliche Zielscheibe der verdrucksten Unzufriedenen, wiederholte, das alles habe mit ihr und ihrer Regierung nichts zu tun. Das weiß sie besser. Der SPD-Obertaktiker Sigmar Gabriel pries die Unabhängigkeit derjenigen Wahlleute der Koalition, die ebendieser Koalition ins Knie geschossen hatten. Auf diese freien Geister könne die Koalition stolz sein. Er schaffte es, dabei auch noch staatstragend zu gucken. Und Uli Maurer, ein führender Linker, der bei der SPD sein Kriegshandwerk gelernt hatte, versicherte: Es komme auf die Linken ja gar nicht an - auch mit deren Stimmen hätte Joachim Gauck im zweiten Wahlgang keine Mehrheit bekommen. Was eine Lüge im Gewand der Wahrheit ist, denn im ersten Wahlgang hätte es durchaus für Gauck reichen können. Nichts spricht dafür, dass all diese Politartisten sich ausgerechnet dann wie Ehrenleute verhalten, wenn sie geschützt vor fremden Blicken ihr Kreuzchen machen.
Genau das führt zu einem durch nichts bewiesenen Verdacht: Am Ende musste ausgerechnet die Linke Christian Wulff zur absoluten Mehrheit verhelfen, damit niemand ihr vorwerfen kann, sie sei es gewesen, die den Konservativen ins Amt gebracht hätte. Das klingt absurd, und ist es auch. Man muss etwas tun, damit einem niemand vorwerfen kann, eben dies getan zu haben. Selbst nach den üblichen Standards der Parteipolitik ist das ziemlich gaga. Aber wie weit wir gekommen sind, sieht man allein daran, dass am Tag der Wahl niemand nichts ausschließen kann. Politik und Kabarett werden eins.
Taktik, offene Rechnungen, der eigene Vorteil
Weil das Ganze für normal denkende Menschen kaum nachvollziehbar ist, hier noch einmal die Fakten: SPD und Grüne wollten die Linke als Steigbügelhalter der Schwarz-Gelben vorführen. Gabriel sagte: "Christan Wulff ist letztlich auch mit Hilfe der Linken zum Präsidenten geworden." Den Vorwurf konnte die Linken nur bei einem Wahlausgang abwehren, der ihre Stimmen irrelevant macht. Deshalb brauchte sie eine absolute Mehrheit für Wulff. Andere Möglichkeiten hatte die Partei nicht, da ein Teil ihrer Wahlmänner auch unter der Folter die Stimme für den Ex-Stasiaufklärer Gauck verweigert hätte. Also ist es durchaus denkbar, dass im entscheidenden dritten Wahlgang die Stimmen, die Wulff zuvor zur absoluten Mehrheit fehlten, auch von den Linken kamen.
Solche Spekulationen wären geradezu bösartig, wenn das Gerede aller Parteien über die Würde des Präsidentenamtes nicht so penetrant vom Geruch kleinlichster Taktik begleitet gewesen wäre. In dieser Bundesversammlung ging es um vieles - aber kaum jemand scherte sich darum, ob Deutschland den bestmöglichen Präsidenten bekommt. Die Triebkräfte waren: Taktik, offene Rechnungen, der eigene Vorteil. Nichts deutet darauf hin, dass es anderswo und andernorts besser zugeht.
Es wird wahrscheinlich nicht lange dauern, bis die ersten FDP-Abgeordneten im nordrhein-westfälischen Landtag in geheimer Abstimmung eine rot-grüne Minderheitsregierung unterstützen, nur um zu verhindern, dass die Regierung scheitert und sie bei Neuwahlen ihre Mandate verlieren. Oder bis die SPD den Bundesrat wieder wider besseres Wissen zur Blockade der geschwächten Regierung nutzt, um der anschließend Untätigkeit vorzuwerfen. Die vom neuen Präsidenten so herzlich gegrüßten Bürger werden wohl weiter damit leben müssen, dass es eben nicht nur um unser schönes Vaterland geht, dem der neue Präsident zu dienen versprach.