Wege zur Neuwahl Jede Variante birgt Risiken

Vertrauensfrage, Rücktritt oder Verfassungsänderung? Niemand kann einen juristisch einwandfreien Weg zur Neuwahl aufzeigen. Alle drei denkbaren Varianten bergen Risiken in sich.

Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) will die Vertrauensfrage stellen. Die Union fordert seinen Rücktritt. Auch über eine Änderung des Grundgesetzes zur vorzeitigen Auflösung des Bundestags wird nachgedacht. Alle Parteien stellen sich auf eine Neuwahl des Bundestags ein. Doch in den Fraktionen herrschen Restzweifel, ob die Bürger im Herbst auch wirklich zur Entscheidung gerufen werden. Grund: Niemand kann einen juristisch einwandfreien Weg zur Neuwahl aufzeigen. Alle drei denkbaren Varianten bergen Risiken in sich.

Die Vertrauensfrage

Der Bundeskanzler will am 1. Juli im Bundestag die Vertrauensfrage stellen - um zu verlieren. Ob der Bundespräsident im Anschluss gemäß Artikel 68 Grundgesetz den Bundestag auflöst und eine Neuwahl ermöglicht, hängt aber davon ab, wie der Kanzler die Vertrauensfrage begründet.

Daraus macht Schröder noch ein Geheimnis. Der Kanzler kann aber nicht jede Argumentation vortragen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts setzt der Weg über Artikel 68 "stets eine politische Lage der Instabilität zwischen Bundeskanzler und Bundestag voraus". Der Regierungschef darf sich nach Ansicht der Verfassungsrichter "der stetigen parlamentarischen Unterstützung durch die Mehrheit nicht sicher sein".

Als rechtlich kaum tragbar gilt unter der Hand in allen Fraktionen die bisherige Argumentation des Kanzlers und des SPD-Chefs Franz Müntefering. Schröder hatte erklärt, er brauche nach der SPD- Wahlniederlage in Nordrhein-Westfalen eine neue politische Legitimation. Müntefering wies auf die unterschiedlichen Kräfteverhältnisse im Bundestag und im unionsdominierten Bundesrat hin. An dieser Situation würde sich aber auch bei einem rot-grünen Wahlsieg nichts ändern.

Schröder müsste seine Begründung also nachbessern und öffentlich darlegen, warum die Lage im Parlament instabil ist. Das hat er bislang vermieden, auch wenn es zwischenzeitlich so aussah, als wollten die Sozialdemokraten die Grünen als die unsicheren Kantonisten darstellen. Denkbar ist, dass er auf die Unruhe in seiner Partei verweist. Allerdings hat auch die SPD-Linke signalisiert, dass sie die Politik Schröders weiter mittragen will.

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aber verlangt nicht, dass ausgerechnet die, die Schröder als Unsicherheitsfaktoren benennt, auch gegen ihn stimmen müssen. Denkbar wäre daher, dass sich am 1. Juli die Mitglieder des Kabinetts der Stimme enthalten. So hat 1972 der damalige Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) seine gewollte Niederlage bei der Vertrauensfrage herbeigeführt.

Bei Brandt lag aber eine echte Regierungskrise vor. Kurz vor der Vertrauensfrage hatte der Kanzler seinen Haushalt im Parlament nicht durchgebracht. Auch 1983 war die Situation anders als jetzt. Die Union hatte gemeinsam mit der von der SPD zur Union gewechselten FDP zwar gerade den Bundeshaushalt verabschiedet. Bei den Liberalen herrschte aber wegen des Bruchs der Koalition mit der SPD noch große Unruhe. Das Regierungsbündnis von Kanzler Helmut Kohl (CDU) war gerade ein paar Monate alt.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Rot-Grün hat dagegen in dieser Legislaturperiode 29 Mal die Kanzlermehrheit erreicht - trotz aller Widersprüche.

Der Rücktritt

Für den Kanzler ist diese Variante schlicht "wildeste Spekulation". Aber selbst bei einem solchen Schritt wären die Parteien nicht von heute auf morgen bei einer Neuwahl. Vielmehr müsste nach einhelliger Meinung von Staatsrechtlern nach Artikel 63 Grundgesetz der Versuch unternommen werden, im bestehenden Bundestag einen neuen Kanzler zu wählen.

Der Bundespräsident ist sogar verpflichtet, einen Kandidaten oder eine Kandidatin vorzuschlagen. Der Bundestag müsste dann in mehreren Wahlgängen versuchen, einen neuen Kanzler zu wählen. Die Parteien könnten sich freilich intern darauf verständigen, jeden Kandidaten durchfallen zu lassen, um am Ende die Auflösung des Bundestags durch den Bundespräsidenten zu erreichen. Übrigens: Schröder wäre auch bei einem Rücktritt staatsrechtlich nicht gehindert, im Fall der Auflösung des Bundestag noch einmal als Kanzlerkandidat anzutreten.

Die Verfassungsänderung

Bliebe noch die Variante einer Verfassungsänderung mit dem Ziel, ein Selbstauflösungsrecht im Grundgesetz zu verankern. Dies ist sicher grundsätzlich möglich. Würde aber die Grundgesetzänderung vom Bundestag sogleich ausgenutzt, um im nächsten Schritt die Neuwahl im Herbst zu beschließen, würde das Parlament auch die laufende Legislaturperiode verkürzen. Und darin liegt der juristische Haken.

Unstrittig ist, dass das Parlament eine Verlängerung der Wahlperiode immer nur mit Wirkung für den nächsten Wahlzeitraum beschließen kann. Daraus könnte der Schluss gezogen werden, dass auch eine Verkürzung der laufenden Wahlperiode unzulässig ist.

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Ulrich Scharlack/DPA