Analyse Wird Michael Kretschmer Ministerpräsident von Gnaden der AfD?

Halb verborgen durch eine Unschärfe im Vordergrund sieht man Michael Kretschmers Gesicht
Steht vor der schwersten Wahl seines Lebens: Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) 
© Robert Michael/ / Picture Alliance
Lange regierte die CDU absolutistisch in Sachsen. Nun müssen die Partei und ihr Ministerpräsident Michael Kretschmer Demut lernen. Es könnte schon bald gefährlich werden.

Die Dresdner Altstadt wirkt wie der aus Trümmern gebastelte Anspruch eines ehemaligen Königreichs. Eines Sachsens mit Glanz und Gloria. Eines Freistaats auf Augenhöhe mit Bayern. Mindestens.

Niemand verkörperte diesen Anspruch mehr als Kurt Biedenkopf, der 1990 die CDU zur absoluten Mehrheit führte. Als Ministerpräsident residierte er im früheren königlichen Ministerialgebäude, auf das er wieder eine goldene Krone setzen ließ.

"König Kurt" und seiner CDU gehörte Sachsen. Die Union verstand sich als Staatspartei.

Lange her. Vor einigen Tagen musste Biedenkopfs Nachnachnachfolger mal wieder eine ernüchternde Pressekonferenz in Dresden geben. Ministerpräsident Michael Kretschmer schaute noch griesgrämiger als sonst drein, als er verkündete, dass seine CDU mit der SPD eine Minderheitsregierung bilden wolle. Zuvor waren die Gespräche mit der Linke-Abspaltung BSW gescheitert.

Michael Kretschmer verspricht "große Demut"

"Wir müssen die Situation im Freistaat Sachsen anerkennen und respektieren", sagte Kretschmer. Er wolle "mit großer Demut an die Arbeit gehen".

Neben dem Chef der Staatsregierung saß Christian Hartmann, der CDU-Fraktionsvorsitzende im Landtag, und assistierte Kretschmer. "Wir sind in einer neuen Welt", sagte er. "Wir werden lernen müssen, dass wir Abstimmungen verlieren werden." 

Das ist ein völlig neuer Ton. Und es ist eine Zäsur für die Partei, die das Land mehr als 34 Jahre fast nach Gutdünken regierte.

Denn die neue Welt der sächsischen Union ist seit der Landtagswahl am 1. September kalt und kompliziert. Erstmals kann sie keine parlamentarische Mehrheit bilden. Weder reicht es für das ungeliebte, seit 2019 praktizierte Kenia-Bündnis mit SPD und Grünen. Noch konnten sich Christdemokraten und Sozialdemokraten mit dem BSW auf eine Koalition einigen. Gleichzeitig fällt für die CDU neben der AfD auch die Linkspartei aus Prinzip als möglicher Partner aus.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Eine Minderheitskoalition ohne Partner

Und so plant Kretschmer ein Konstrukt, das es in der Bundesrepublik nur im benachbarten Thüringen gab: eine Minderheitskoalition ohne echten Tolerierungspartner. Zusammen kommen CDU und SPD auf 51 Mandate. Die fehlenden zehn Stimmen sollen bei der Abstimmung über Gesetze bei BSW, Grünen, Linken und dem einzigen Abgeordneten der Freien Wähler eingesammelt werden.

Helfen soll dabei ein sogenannter Konsultationsmechanismus. Das bedeutet: Die Oppositionsfraktionen werden bereits während der Regierungsberatungen über Gesetzentwürfe eingebunden. Theoretisch soll dies auch für die AfD gelten, praktisch aber eher nicht. Denn wie in Thüringen schließt die künftige Koalition jede aktive Zusammenarbeit mit der Partei aus. 

Zwar gibt es in der sächsischen Union seit Langem Forderungen, mit der AfD zu kooperieren, zumal dies auf kommunaler Ebene vielerorts geschieht. Doch Kretschmer will das vorerst nicht. Und er könnte es auch nicht. Immerhin ist er Stellvertreter des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz, der den Abgrenzungsbeschluss gegenüber der AfD hochhält und gerade eine Bundestagswahl gewinnen will.

Keine Zusammenarbeit mit der AfD geplant

Und so bekräftigt Kretschmer immer wieder, dass es mit der AfD "keine Zusammenarbeit" und auch "keine Suche nach Mehrheiten" gebe. Auch deshalb setzt er wohl nicht auf eine alleinige Minderheitsregierung, sondern verhandelt mit der SPD. Sie bringt nicht nur zehn Stimmen ein. Sie ist auch der vorläufige Garant gegen eine Annäherung an die AfD. Denn in dem Moment, in dem die CDU-Fraktion Gesetze mithilfe der Rechtsextremen durchsetzte, würden die Sozialdemokraten die Regierung sofort verlassen und in die Fundamentalopposition gehen.

Aber erst einmal muss Kretschmer diese Regierung bilden. Wahrscheinlich am 6. Dezember soll der Koalitionsvertrag vorgestellt werden. Danach müssen ein CDU-Parteitag und die Mitglieder der SPD per Befragung zustimmen. Dann, eine Woche vor Weihnachten, wäre die wichtigste Prüfung zu überstehen: die Ministerpräsidentenwahl. 

Dass Kretschmer im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erringen kann, gilt jenseits geheimer AfD-Manöver als ausgeschlossen. Erst ab dem zweiten Wahlgang, wenn nur noch eine relative Mehrheit nötig ist, dürfte es für die Bestätigung im Amt reichen. 

Insgeheim führt die CDU bereits Gespräche mit der Linken, die sich offen für eine Enthaltung zeigen. Schwieriger ist es mit dem grünen Noch-Koalitionspartner, den Kretschmer im Wahlkampf systematisch angegriffen hatte. Die Verletzungen gehen tief und werden wahrscheinlich nicht mal eben so im Advent heilen.

Drohende Neuwahl diszipliniert die Abgeordneten

Allerdings besitzt der Ministerpräsident ein Disziplinierungsinstrument für alle Beteiligten – und das ist die Landesverfassung. Denn wenn der Landtag nicht vier Monate nach seiner Konstituierung einen neuen Regierungschef wählt, wird das Parlament automatisch aufgelöst. Die Frist läuft Anfang Februar aus. 

Für die meisten Abgeordneten wäre eine rasche Neuwahl bitter; für manche hätte sie gar existenzielle Folgen. Vor allem Grüne und Linke, die es nur knapp es in den Landtag geschafft haben, müssten um ihre Mandate fürchten.  

Dennoch bleibt Kretschmers Risiko enorm. Die AfD in Thüringen hatte bereits im Februar 2020 bewiesen, wie sich eine geheime Ministerpräsidentenwahl für maximale Destruktionswirkung nutzen lässt. Damals führte die von Björn Höcke geleitete Fraktion das Parlament mit einem Scheinkandidaten in die Irre – und das Land ins politische Chaos.

Zwar hat die AfD in Sachsen bisher keinen eigenen Kandidaten angekündigt. Aber sie könnte einfach das tun, was sie zuletzt offiziell ausschloss, und Kretschmer bereits im ersten Wahlgang mitwählen. Stimmen BSW, Linke und Grüne geschlossen mit Nein oder enthalten sich, hätte sie dem Ministerpräsidenten ins Amt verholfen. 

Ein Ministerpräsident von Gnaden der AfD?

Oder die AfD könnte darauf setzen, gemeinsam mit dem BSW durchgehend 55 Nein-Stimmen zu produzieren, und damit die Minderheitskoalition zu überstimmen. Dann würden auch ab dem zweiten Wahlgang mögliche Enthaltungen von Linken und Grünen nicht für Kretschmer reichen. Und wer sagt eigentlich, dass alle CDU-Abgeordneten für ihren Regierungschef stimmen?

Falls also Kretschmer nicht schon vor der Wahl die von ihm behauptete Demut tatsächlich zeigt und verbindliche Absprachen mit Grünen, Linken oder BSW trifft, könnte es ihm ähnlich ergehen wie dem FDP-Politiker Thomas Kemmerich vor knapp fünf Jahren in Thüringen: Er hatte die Wahl nur dank Stimmen von Rechtsextremisten gewonnen.

Es wäre der Ernstfall für Kretschmer. Denn er hätte nur noch schlechte Optionen. Lehnte er seine Wahl ab, dürfte seine Karriere beendet sein. Nähme er sie an, wäre er ein Ministerpräsident von Gnaden der AfD. Mit allen Folgen.