Das Bewusstsein hinkt der Realität hinterher. In den Medien nicht anders als in der Politik. Das Bewusstsein wähnt sich in gemütlichen Zeiten. Auf Titelseiten wie auf Parteitagen: Luxusdebatten. Streit um die Außenpolitik: Durfte die Kanzlerin den Dalai Lama empfangen? Streit um den Mindestlohn: X-Euro-wie-viel bei der Post? Streit um die Koalition: Können die noch miteinander? Die Parteitage flaggen Mehr: Verteilung und Umverteilung. "Aufschwung für alle", prangt in den Hallen. 60 Milliarden Euro wollen die Grünen unters Hartz-IV-Volk bringen - Triumph der Traumtänzer. "Wir müssen die Grundlagen des Aufschwungs festigen", verkündet die Kanzlerin. Aufschwung? Wie lange gibt’s den noch? Deutschland, die Weltwirtschaft insgesamt steht an der Wasserscheide zwischen Auf- und Abschwung. Bevor die Teilhabe am neuen Wohlstand richtig begonnen hat, könnte sie schon wieder zu Ende sein. Vielleicht sind die Lokführer die Letzten, die davon noch spürbar etwas abbekommen. Denn statt Aufschwung für alle steht nun zu fürchten: Abschwung für alle. Die Menschen scheinen ein feineres Gespür dafür zu haben als die Parteien, die unverdrossen wahlkampfseligen Illusionen nachhängen. 44 Prozent der Deutschen rechnen damit, dass sich die wirtschaftliche Lage verschlechtern wird - nur 26 Prozent sind Optimisten. Im Juli war es noch umgekehrt: Die Optimisten lagen mit 38 Prozent vorn, 29 sahen schwarz.
Wer die schwärende Krise ermessen, die Welt erkennen möchte, in der er morgen leben wird, muss in diesen Zeiten die Wirtschaftsteile der Zeitungen lesen, nicht die politischen. "Finanzmärkte im Banne der Krise", "Krise springt auf Versicherer über", "Schockwelle für die Aktienmärkte". Nur selten schafft es eine der täglichen Hiobsbotschaften auf die Titelseiten: "Deutsche Bank warnt vor Rezession" oder "Lage von Airbus ist lebensbedrohlich". Alles kommt nun gleichzeitig und verbindet sich zum Amalgam einer nahenden Katastrophe: taumelnde Finanzmärkte, an den Abgrund gerückt durch halsbrecherisch finanzierte Hypothekenkredite in den USA. Schönfärbende oder gar lügende Banken mit Milliardenausfällen, die sich gegenseitig nicht mehr trauen und nur noch zögernd Geld verleihen. Eine Finanzkrise, die von den Banken auf Versicherungen überspringt, danach womöglich auf Kreditkartenfirmen und Autofinanzierer. Einbrechende Börsen, an denen Milliarden verbrennen - die Aktien von VW und Thyssen- Krupp verloren binnen weniger Wochen rund ein Fünftel ihres Wertes, Daimler mehr als 15 Prozent. Erschütterte Pfandbriefmärkte, einst Bastionen der sicheren Geldanlage. Ein dramatisch abstürzender Dollar und ein ebenso dramatisch steigender Euro, der deutsche Exporte verteuert und damit Jobs gefährdet. Und teils exorbitante Preissteigerungen, vor allem für Öl, Gas und Benzin, aber auch für Lebensmittel. Butter ist seit Juni 2006 gut 40 Prozent teurer geworden.
Der Aufschwung für alle könnte beendet sein, bevor er richtig begonnen hat. Gut möglich, dass sich Angst und Wut der Enttäuschten in einem Linksruck entladen mit einem Winseln
Rezession und Inflation nennen Ökonomen das, was aus diesem Gebräu heraufschäumen könnte. Und zwar gleichzeitig - die gefährlichste Kombination. Die Prognosen der Experten spiegeln das, wie immer, nur mit Verzögerung. Wie sie den Aufschwung der vergangenen beiden Jahre unterschätzt haben, so unterschätzen sie jetzt auch den Abschwung. Rund zweieinhalb Prozent Wachstum dürfte die deutsche Wirtschaft 2007 erreichen, 2008 werden es nach ihrer Expertise weniger als zwei Prozent sein. Einige fürchten aber schon eine bruchartige Rezession, Schrumpfung der Weltwirtschaft. Und mehr, viel mehr Bedrohliches: Hypothekenkrisen auch in Europa, in Spanien etwa. Anhaltende Abwertung des Dollars und sinkende Zinsen in den USA auch 2008 - was die Europäische Zentralbank unter politischen Druck setzen dürfte, die Euro-Zinsen zu senken, um den Export zu retten, aber die Inflation befeuern würde. Und womöglich Massenentlassungen, etwa bei Banken, Telekom, Airbus. Und dann: überall. Denn rasierte Wertpapierdepots und steigende Preise blieben nicht ohne Folgen für den Konsum: Schon jetzt sind viele Menschen schockiert durch Heizkostennachzahlungen für den vergangenen Winter. Der kommende dürfte noch teurer werden. Über der Politik und dem Wahl-Marathon der nächsten Jahre zieht ein abrupter Klimasturz herauf. Mit unwägbaren Folgen. Gut möglich, dass sich Angst und Wut der Enttäuschten in einem weiteren Linksruck entladen. Und die Union ihrer verlorenen Wirtschaftskompetenz nachweint. Denkbar aber auch, dass in der Krise der Kanzlerinnenbonus besonders schwer wiegt. Bloß: Merkel muss sich darauf einstellen. Noch denkt die Politik, sie regiert. Bald aber wird sie regiert - von der Wirtschaft. Wer das zuerst begreift, siegt.