Ist ein neuer Kanzler oder ein neuer Präsident gewählt worden? Die Schonungslosigkeit seiner Analyse, die Schnörkellosigkeit seiner Sprache, die Dynamik seines Auftretens ließen erwarten, Horst Köhler werde nun sein Kabinett vorstellen - neue Köpfe, energische Seiteneinsteiger wie er selbst, niemand aus der "ein bisschen müde gewordenen" Politik - und dann seine Regierungserklärung abgeben zur "grundlegenden Erneuerung unseres Landes". Motto: "Deutschland soll ein Land der Ideen werden."
Zeitenwende? Zeitenwende! Nicht so platt, nicht so armselig parteitaktisch als Ankündigung puren Machtwechsels zu verstehen, wie es das frohlockende Kleeblatt der "bürgerlichen" Mehrheit - Angela Merkel, Edmund Stoiber und der ergeben an den Haken gegangene Guido Westerwelle - nach Köhlers Wahl tat. Mag sein, dass aus dieser Saat auch ein Machtwechsel sprießt, 2006 oder schon nächstes Jahr, falls Rot-Grün erst Nordrhein-Westfalen und dann die Nerven verliert.
Seine Erklärungen lassen mehr erahnen
Köhlers Wahl, seine forschen, ja stürmischen Erklärungen lassen weit mehr erahnen, sind keineswegs nur ein Versprechen auf das Auswechseln der einen durch die anderen. Es ist, als habe das ungeduldig gewordene Land - bar jeden Vertrauens in die Vernunft und die Handlungsfähigkeit der politprofessionellen Kaste - einen nach oben geschickt, die Dinge endlich in Bewegung zu setzen. Einen Künder der Wirklichkeit in die Sphäre der Illusionisten. Horst Köhler inszeniert nicht weniger als den Einbruch des gesunden Menschenverstands in die taktisch verkeilte Blockadewelt der operativen Politik.
Und eine Revolution im Amtsverständnis des Präsidenten. Er mahnt nicht, in lorbeerverstellter Sonntagsrede, behutsam abstrakt, großväterlich mild - und wirkungslos. Er kritisiert konkret, er drängt, er attackiert - und erzeugt Bewegung. Der Präsident, das ist das Neue, das Aufregende, das Riskante auch, betritt lautstark und entschlossen die Bühne der praktischen Politik, ja der Tagespolitik.
Ein Macher tritt das Erbe der Mahner an
So einen hatten wir noch nie. Ein Macher tritt das Erbe der Mahner an. Und geht daran, dem Land eine eigene, die deutsche Version eines Präsidialsystems zu verpassen. Eines Staatsoberhaupts, das die Grenzen der Verfassung dehnt, um mitzuregieren, ohne doch Regierungsgewalt zu haben. Es ist ein Wechsel auf eine andere Zeit, ein Wechsel auf die Zukunft - darauf, dass sich das sich selbst kasteiende Land freikämpft von innerer Blockade. Der Ungezähmte, der hoffentlich Unzähmbare, lässt die Klasse der Berufspolitiker wie einen Clan von Inzüchtigen erscheinen. Fasziniert die einen, zähneknirschend die anderen, erschrocken aber alle, halten sie inne. Und staunen. Oder schäumen.
Seine erste Skizze zur Lage der Nation, in wenigen klaren Sätzen vor der Bundesversammlung hingeworfen - ein Land ohne Mut, Kreativität und Lust auf Neues, ein ökonomisch und sozial gefährdetes Land, abgrundtief pessimistisch und bedrohlich kinderlos -, ließ die Mienen zur Linken versteinern, verführte indes einige Grüne zu schüchternem Applaus. Der Kanzler schaute, als wäre er zum zweiten Mal in diesen Tagen geohrfeigt worden.

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Der Ungezähmte lässt die Politiker wie einen Clan der Inzüchtigen erscheinen
Für ihn hat die Zeit einer schwierigen Kohabitation begonnen. Zwei Männer, so scheint es, regieren Deutschland. Der eine, der neue, stößt in die Orientierungslücke des anderen, formuliert das, was der eigentlich Verantwortliche in lustlosen Regierungserklärungen nicht zu sagen wagte oder vermochte. Schiebt sich quasi in sein Kabinett. Gibt Schröders Agenda 2010 "historische Qualität" und fügt doch an: "Es reicht noch nicht." Der Treiber wird Getriebener. Nun steht er nicht mehr an der Spitze der Reformbewegung. Will er bei solcher Herausforderung ihr Scout sein, handelt er sich neue Konflikte mit seiner Partei ein. Bleibt er zurück, ist sein Sturz womöglich besiegelt.
Wer angreift, macht sich angreifbar
Doch auch für den Kanzler-Präsidenten ist die Kohabitation ein riskantes Experiment. Wer angreift, macht sich angreifbar. Schon schallt es zurück, Köhler sei schließlich nicht Wirtschaftsminister. Die gestelzte Formel von der "Würde des Amtes", das "Bitte nicht füttern"-Schild am Schongehege der Präsidenten, wird demontiert. Der Gefangene selbst will es so, er möchte ausbrechen. Hält er durch, findet er Gefallen am politischen Abenteuer auf freier Wildbahn, wird ihn auch Angela Merkel nicht mehr einfangen, so sie denn Kanzlerin werden sollte. Horst Köhler hat begonnen, auch für sie Maßstäbe zu setzen. Jede Zeit, so heißt es, findet ihren Präsidenten. Diese Zeit hat diesen verdient.