Zwischenruf Der Königin neue Kleider

Der Steuer-Coup des Kanzlers hat es offenbart: Angela Merkel ist nicht die starke, sondern die schwache Frau der Union. Zehn mächtige Männer stehen gegen sie. Aus stern Nr. 29/2003

Die Königin hat kein Land, und sie sieht kein Land. Die Königin strebt nach der Macht, und sie hat keine Macht. Die Königin ist bedroht, und sie kann niemanden bedrohen. Die Königin ringt um Vertrauen, und sie regiert durch Misstrauen. Die Königin ist eine traurige Gestalt, und sie macht traurige Figur.

Die Königin ist eigentlich gar keine Königin. Sie stellt eine dar. In diesen Tagen hat sie sich dem Volk in ihren neuen Kleidern gezeigt. Und das Volk hat erkannt. Angela Merkel kämpft nicht gegen die Regierung, sie kämpft gegen ihr eigenes Lager. Die mächtigste Frau der Union? Wenn die Betonung auf Frau liegt, mag das stimmen. Wenn sich der Blick auf die Macht richtet, ein krasses Fehlurteil.

Ihr bleibt nur zu reden

Denn Angela Merkel ist nicht Herrscherin, sie ist Abhängige. Der Ort, an dem sie zu herrschen sich müht, ist kein Machtzentrum. Denn die Union hat gar keines. Im schwarzen Imperium steht es zehn zu eins gegen sie. Denn alle ihre Herzöge sind Fürsten von eigenen Gnaden. Mancher stützt sie, so es ihm gefällt; aber keiner setzt sie über sich selbst. Sie redet viel. Ihr bleibt nur zu reden. Die anderen lassen sie reden. Und sprechen für sich.

Angela Merkels Reich besteht nur aus ihrem Hof, der von einsamen Frauen bevölkert wird. Ihr selbst, ihrer Büroleiterin, ihrer Sprecherin. Dienend zugelassen sind wenige Männer, der Generalsekretär und die Geschäftsführer von Partei und Fraktion. Nur die hat sie erwählt. Alle anderen im Adelsgeschlecht der Union sind gesetzt. Haben sich selbst gesetzt. Zehn mächtige Männer. Jeder für sich und - wenn es darauf ankommt - alle gegen eine.

Friedrich Merz ist ein Frondeur

Schon Friedrich Merz, ihr Stellvertreter im Fraktionsvorsitz, ist ein Frondeur. Getrieben von kühler Intelligenz, ungestilltem Ehrgeiz und bohrender Revanchelust. Denn sie hat ihn abserviert mit schneidender Kälte, als sie nach der Wahl seinen Stuhl im Fraktionsvorsitz brauchte, um nicht selbst zwischen allen Stühlen zu sitzen. Das vergisst er ihr nie. Schlägt sie Schuldenerlass für den Irak vor, um den Amerikanern zu gefallen, ruft er postwendend, um die Staatskasse zu füllen: Treibt die deutschen Auslandsschulden ein! Rücksichtslos und händereibend. Er ist so frei, denn er fühlt sich ganz frei: Seine Macht ist keine Funktion der ihren. Keiner der Männer, die sie einst mit ihrem unbändigen Drang nach oben zur Seite geschubst hat, ist politisch beseitigt. Ihre Leichen leben noch. Und wie. In der Kulisse, hinter Merz, sitzt noch so einer: Wolfgang Schäuble. Abgestellt, aber nicht ausgeschaltet.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Keiner hofft, durch sie mehr zu werden. Jeder kann nur gegen sie mehr werden

Und dann die Riege der Herzöge, deren Land kein Lehen der Königin ist. Die neun Länderfürsten Stoiber (Bayern), Koch (Hessen), Wulff (Niedersachsen), Teufel (Baden-Württemberg), Milbradt (Sachsen), Böhmer (Sachsen-Anhalt), Müller (Saarland), Althaus (Thüringen) und von Beust (Hamburg). Jeder hat sich sein Fürstentum selbst erobert. Keiner hofft, durch sie noch mehr zu werden. Jeder kann nur gegen sie mehr werden.

Sondern er verfrühstückt sie

Einer war schon mehr, gegen sie: Edmund Stoiber. Seine Kanzlerkandidatur ist Geschichte, seine Ambitionen sind aktuell. Wer weiß, vielleicht wird er doch noch mal nach ganz oben gespült. Dann frühstückt sie nicht mit ihm, sondern er verfrühstückt sie. Seine CSU jedenfalls hat es sich zum Mythos gemacht, dass ihr Vormann nur in Augenhöhe, wenn nicht gar von oben herab, mit der schwachen Regentin der starken CDU verkehrt.

Ein zweiter ist fest entschlossen, mehr zu werden, gegen sie: Roland Koch. Er demonstriert das völlig ungeniert und bei jeder Gelegenheit. Das isoliert ihn im Augenblick bei den anderen, aber es könnte ihn schnell auf deren Schultern emporhieven. Und ein dritter träumt davon, mehr zu werden, gegen sie: Christian Wulff. Er ist ganz hin und weg von seinem entbehrungsreich ertrotzten Wahlsieg in Hannover. Ist von dort nicht schon mal einem Mann der Sprung ins Kanzleramt gelungen? Er ist jung, er hat Zeit, wer weiß?

Gerhard Schröders Steuer-Coup hat in einer einzigen Sekunde den Vorhang weggerissen vor all diesen komplizierten Kabalen. Und das Triumphgeheul der machttrunkenen Unionisten über ihre glanzvollen Umfragedaten in einen vielstimmig schrägen Chor verwirrter Illusionisten verwandelt. Neun Monate hatten sie Zeit, nach der Wahlniederlage eine stabile Formation zu bilden. Drei Wochen blieben ihnen, um sich auf das angekündigte Vorziehen der Steuerreform einzustellen. Dann stand sie nackt da, die Königin. Aus dem hell erleuchteten Kanzleramt dröhnt Gelächter.

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Hans-Ulrich Jörges