Zwischenruf Die Barrikaden von Berlin

Noch dramatischer als der Absturz der Union unter 30 Prozent ist der Zerfall ihrer Führung - dort lodert die Verzweiflung über das eigene Versagen. Aus stern Nr. 40/2006

Wenn das jemand mitgeschnitten hätte und es wäre heute Morgen im Radio gesendet worden, hätten wir jetzt Unruhen auf den Straßen wie in Ungarn." Freitagmorgen vergangener Woche. Am Vorabend, bis in die Nacht hinein, haben sich die Ministerpräsidenten der unionsregierten Länder in Berlin mit der Kanzlerin über die verbockte Gesundheitsreform und den Scherbenhaufen ihrer gemeinsamen Politik gebeugt. Den Satz, der über den Tisch rollt wie eine Handgranate, sagt nun - wenige Stunden später und bitter wie nie - einer, der dabei war. Und einen zweiten Satz, der nicht weniger Sprengkraft hat: "Ihr ist das ganze Land egal." Sie, das ist die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, die den Amtseid geschworen hat, den Nutzen des deutschen Volkes zu mehren und Schaden von ihm zu wenden.

In Budapest, bei der aufwühlenden Rede des sozialistischen Regierungschefs, die das Volk auf die Straßen trieb, ging es um Lügen. Viele Lügen. Morgens, mittags, abends und in der Nacht. In Berlin, bei dem Treffen der Unionsgranden in der Hamburger Landesvertretung, ging es im Urteil dessen, der die bösen Sätze sagt, um eine Lüge. Eine einzige. Die denkbar größte. Um die Lüge, die Union wisse, was sie tue, regiere zielgerichtet und verlässlich, geschlossen und entschlossen, ganz und gar orientiert am Wohl des Landes. "Totale Konfusion", zitiert anderntags die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" einen Teilnehmer.

Die Lüge der Union ist die Lüge von ihrer Kompetenz. Inkompetenz, speziell in Berlin, aber auch kollektiv, was die gebündelten Fähigkeiten von CDU und CSU angeht, ist das Vernichtendste, was sich den Konservativen nachsagen lässt, die sich in ihrer Geschichte stets als Staatspartei der Nachkriegsrepublik begriffen haben. An jenem Morgen, an dem die beiden ernüchternden Sätze über die lange Nacht der Union fallen, erinnert Helmut Schmidt, der Ex-Kanzler, bei der Trauerfeier für Rainer Barzel im Bundestag an das Ende der Weimarer Republik wegen eines nichtswürdigen Streits um die Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. Eine Warnung, die den Atem stocken lässt.

Die Deutschen sind ein geduldiges, ein leidensfähiges, ein demokratisch reifes Volk. Sie gehen nicht auf die Straße, sie zünden keine Autos an, sie stürmen keine Fernsehsender und Regierungsgebäude. Sie flüchten sich in 40 oder 50 Prozent Wahlenthaltung, und nur ein kleiner, verlorener Haufen wählt NPD. Sie wissen nicht, was sich hinter den verschlossenen Türen der Politik wirklich abspielt und was Journalisten wissen, die davon hören, aber auf Vertraulichkeit und Anonymität ihrer Quellen verpflichtet werden. Aber sie ahnen, sie wittern. Ihre Straße sind Meinungsumfragen. Da brennen die Barrikaden.

Und diese brennenden Barrikaden beleuchten nicht eine Regierungs- oder Koalitionskrise, sie illuminieren eine Krise der Union. Erstmals seit der Spendenaffäre Helmut Kohls Anfang 2000 ist die Union nun unter 30 Prozent gesackt - im Februar war sie noch auf 40 gekommen. Und erstmals seit der Endphase des Bundestagswahlkampfs 2002 ist die SPD mit 30 Prozent stärker als CDU und CSU. Kurt Beck hat rasant zu Angela Merkel aufgeschlossen: 30 Prozent - Spitzenwert seit seiner Wahl zum SPD-Vorsitzenden - würden ihn heute direkt zum Kanzler wählen, nur noch 35 Prozent Angela Merkel, 12 weniger als im Mai. Der Kompetenzwert der Union - der Anteil jener, die ihr am ehesten die Lösung der Probleme des Landes zutrauen - hat sich seit Februar fast halbiert: Er ist von 28 auf 15 Prozent gesunken.

In Budapest ging es um viele Lügen, in Berlin geht es um eine einzige - um die Lüge von der Kompetenz der Union

Die Urteile übereinander sind erschreckend. "Grottenschlecht" habe die Union in Berlin über die Gesundheitsreform verhandelt, "keinen Plan gehabt, wo sie hinwollte", sagt ein Ministerpräsident der CDU. Edmund Stoiber, der CSU-Chef, der mitverhandelte, und zugleich der Regierungschef, der postwendend gegen das Ergebnis opponierte, sei "eine nationale Katastrophe", sagt ein Spitzenmann aus der Unionsfraktion. Schlechter kann man auch über den politischen Gegner nicht reden.

Wenn die Deutschen wüssten, wer sie regiert - und wie ... Die Länderchefs der Union glauben es zu wissen und versuchen nun, jeder für sich, jeder auf seine Weise und jeder mit eigenem Karriere-Kalkül, einen Wall gegen den machtverzehrenden Schwelbrand in Berlin hochzuziehen. Einen Brand, der nach ihrem Befund durch personelle Zweitklassigkeit und sachliche Inkompetenz genährt wird. Angela Merkel ist Opfer ihres eigenen Machtsystems. Loyalität hatte Vorrang vor Qualität - in Kanzleramt, Kabinett und Fraktion. Ergebnis ist ein mediokres Gefüge, in dem die Besten keinen oder nicht den angemessenen Platz haben und das die Führungsfähigkeit der Kanzlerin gefährdet: Sie regiert das Land unter Wert. Will sie den Niedergang stoppen, muss sie auch personell neu starten - oder der Kanzlerwechsel wird zum Thema der Union.

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Hans-Ulrich Jörges