Der Staat ist verpflichtet, seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen", sprach Oskar Lafontaine, "er ist verpflichtet zu verhindern, dass Familienväter und Frauen arbeitslos werden, weil Fremdarbeiter zu niedrigen Löhnen ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen." Er wurde gesteinigt für diesen Satz. Der charakterlose Überläufer, tönte es aus der SPD, die schleunigst den Begriff "Fremdarbeiter" aus ihren eigenen Internetdokumenten tilgte, wate nun auch noch durch den "rechten Sumpf", um Stimmen zu fangen.
Dennoch werden in den Gewerkschaften Unterschriften für einen Wahlaufruf zugunsten der Linkspartei gesammelt. Dennoch gehören die altlinken Gewerkschafter Detlef Hensche, ehemals Vorsitzender der IG Medien, und Horst Schmitthenner, früherer IG-Metall-Vorstand, zu den Erstunterzeichnern. Dennoch tritt Klaus Ernst, erster Bevollmächtigter der IG Metall in Schweinfurt, in Bayern als Spitzenkandidat der Linkspartei an. Dennoch kandidiert in Thüringen der DGB-Landesvorsitzende Frank Spieth für die Linke. "Rechter Sumpf" und linke Gewerkschafter, ja Gewerkschaftsfunktionäre - wie passt das zusammen? Wirken Gewerkschafter nicht verlässlich und engagiert daran mit, ebenjenen Sumpf trockenzulegen?
Eine Studie über Rechtsextremismus bei Gewerkschaftsmitgliedern gibt verblüffenden Aufschluss über den vermeintlich schreienden Widerspruch. Fünf Experten haben dazu in den Jahren 2003 und 2004, gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung und der Otto-Brenner-Stiftung, 4008 Arbeitnehmer befragt und die alarmierenden Resultate in zehn Gruppendiskussionen mit 58 Funktionären von DGB-Gewerkschaften vertieft.
Nach dem Befund der Studie nistet der Rechtsextremismus mitten in den Gewerkschaften. Rechtsextreme Einstellungen sind unter ihren Mitgliedern so - erschreckend - weit verbreitet wie unter Nichtmitgliedern: 19,1 Prozent der Organisierten - im Osten sogar 22,5 - sind rechtsextrem orientiert, im Vergleich zu 20 Prozent bei den Nichtorganisierten. Dass einfache Arbeiter unter den Gewerkschaftern mit 34 Prozent an der Spitze liegen, überrascht wenig - sie stellen aber nur zehn Prozent der Mitglieder. Brisant wird die Untersuchung bei Betrachtung der sozialen Schichtung.
"Gewerkschaftsmitglieder aus der Mittelschicht, die die Hälfte aller Mitglieder ausmachen, sind anderthalb Mal so häufig rechtsextrem eingestellt wie Nichtmitglieder aus dieser Schicht", schreiben die Autoren - im Verhältnis von 19 zu 13 Prozent. "Bei der Mittelschicht handelt es sich zumeist um Facharbeiter und qualifizierte Angestellte, die über ein relativ gutes Einkommen und über eine vergleichsweise gute Bildung verfügen und daher eigentlich nicht zu den Verlierern der Modernisierungs- und Globalisierungsprozesse zählen. Dieses Mitgliedersegment hat innerhalb der Gewerkschaften nicht nur wegen seiner Größe eine herausragende Bedeutung, ihm gehören auch 43 Prozent der Funktionäre an."
Ein Satz wie ein Paukenschlag. Er widerspricht fundamental der gängigen These, Rechtsextreme seien Unterprivilegierte, Versprengte, Deklassierte. Die Sozialwissenschaftler der Gewerkschaften erklären ihren abweichenden Befund mit einer starken "systemkritischen" Einstellung etablierter Gewerkschafter. Es zeige sich, "dass Gewerkschaftsmitglieder aus der Mittelschicht teilweise extrem unzufrieden mit den wirtschaftlich-sozialen und politischen Verhältnissen sind und dann zu heftiger Systemkritik, zu Fundamentalopposition und eben auch zum Rechtsextremismus neigen".
19 Prozent der Gewerkschafter aus der Mittelschicht sind rechtsextrem eingestellt, zumeist Facharbeiter und Angestellte
Funktionäre und Betriebsräte konnten sich Jahrzehnte als Nutznießer erfolgreicher Tarifpolitik und wirtschaftlichen Wohlstands fühlen. Nun müssen sie "mit ansehen, wie die früheren Erfolge der gewerkschaftlichen Politik, also ihre eigenen Erfolge, Stück für Stück demontiert werden, wie die Macht der Gewerkschaften Stück für Stück zurückgedrängt wird". Sie entwickelten in doppelter Hinsicht Ängste: "Als Arbeitnehmern droht ihnen das Schicksal von sozialen Verlierern, als Gewerkschaftsmitgliedern droht ihnen das Schicksal von politischen Verlierern."
Teile dieser Klientel suchten daher Schutz "durch eine nationalistische und ethnozentrische Politik". Mit anderen Worten: Rechte und linke Protesthaltung fließen hier ineinander. In den aktuellen Wahlkampf übersetzt heißt das: Die Rechtfertigung Lafontaines wie seines eher zaudernden Partners Gregor Gysi, man wolle Verwirrte davon abhalten, der NPD nachzulaufen, trifft parteitaktisch ins Schwarze. Denn die klassischen Immunisierungskampagnen der Gewerkschaften "als Beiwerk", folgern die Autoren der Studie, bleiben wirkungslos.
So gesehen ist die Linkspartei nicht nur personell, sondern auch politisch eine Gewerkschaftspartei. Sie klammert Links und Rechts. Und bleibt selbst, in den Gewerkschaften, an ihre Hassliebe geklammert - die Sozialdemokratie.