Zwischenruf Die Stille nach dem Knall

Fußball, Schnee und Vögel - Deutschland scheint keine anderen Probleme mehr zu kennen. Denn die Große Koalition liefert den Medien kein großes Theater mehr. Aus stern Nr. 12/2006

Wenn Uli Wickert die bedeutendsten Ereignisse für die Nation vor den "Tagesthemen" mit dem Satz ordnet: "Die Bahn fährt nicht mehr, Hallen stürzen ein, und immer noch schneit es", wenn die "Süddeutsche Zeitung" am einen Tag dem "Schnee von heute" einen Leitartikel widmet und am anderen der "polnischen Psyche", wenn die Deutsche Presse-Agentur den Auszug der Opposition aus dem Bundestags-Bildungsausschuss mit einem Namensartikel adelt und Associated Press die Infizierung eines Steinmarders durch das Vogelgrippevirus mit einer Eilmeldung, wenn die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" die Titelseite aufmacht mit "Bush enttäuscht Pakistan" und sieben der neun folgenden Politikseiten mit einem Taliban, einem Schiiten, einem Israeli und anderen Auslandsthemen, wenn die "Welt" mit dem Widerstand der sachsen-anhaltinischen FDP-Vorsitzenden Cornelia Pieper gegen die Föderalismusreform titelt und der "Spiegel" mit dem Fußballtrainer Jürgen Klinsmann als deutschem Schicksalsträger, wenn der "Tagesspiegel" vermeldet, der Verteidigungsminister wolle "die gesellschaftliche Anerkennung der Bundeswehr stärken" und der "Presseservice der SPD" Kapitalismuskritik der CDU-Kanzlerin mit dem gummihammerharten Urteil trifft: "Es wurde höchste Zeit", wenn also all das die Medien füllt...

...dann muss das keineswegs bedeuten, dass die Deutschen im Schnee ersticken, die Alpen untergehen und Polen verrückt spielt, der Bildungsausschuss zum revolutionären Schauplatz, der Steinmarder zur virulenten Gefahr, das Ausland zur wahren Hölle, Frau Pieper zur Meinungsführerin und Herr Klinsmann zum Verderber der Nation geworden ist, dass die Bundeswehr unten durch und Angela Merkel der Schrecken der Heuschrecken wäre.

Dann offenbart das vielleicht viel eher, dass sich Maßstäbe verschoben, Bedeutungen verändert und weniger die Welt oder die Deutschen, sondern die Medien Probleme haben. Probleme damit, dass sie keine Probleme mehr finden - präziser: dass ihnen keine mehr serviert oder aufgedrängt werden. Probleme, die früher zuverlässig Fernsehblöcke, Titelseiten, Leitartikel und Partei-Pamphlete füllten. Der innenpolitische Streit der Parteien nämlich - in den eigenen Reihen wie auch gegeneinander - ist wie ausgeknipst, seit die Große Koalition regiert.

Es ist die Stille nach dem Knall, nach dem Horror des Wahlabends, der einer siegesgewissen Kanzlerkandidatin das Blut in den Adern gefrieren und einem augenblickstrunkenen Noch-Kanzler die Hormone sieden ließ. In diese Stille hinein, in diesen fortdauernden Schockzustand, der nur langsam weicht, rieselt leise der Schnee, stürzen die Vögel, verrecken die Marder und verlieren die Klinsmänner. Gründlich verändert scheinen Land und Medien. Die Koalition der kleinen Schritte ist auch die Koalition der vernähten Lippen. Dem Medienkanzler folgte eine Schweigekanzlerin.

Fanden die Exhibitionisten früher Befriedigung darin, den Mantel aufzureißen, halten sie ihn heute züchtig zugeknöpft

Wurde früher alles in den Medien lanciert, diskutiert und kritisiert - statt in Kabinett, Parlament oder Partei -, wird nun geheim gedacht, diskret debattiert und verschwiegen verhandelt. Drängten die Matadore einst in Talkshows, um sich zu schlagen, verteidigen sie heute den freien Abend, um zu entspannen. Fanden die Exhibitionisten ehedem Befriedigung darin, den Mantel vor großem Publikum aufzureißen, halten sie ihn heute züchtig zugeknöpft - sofern sie überhaupt noch aus den Büschen kommen. Das trifft den Geschmack des Publikums. Es ekelt sich vor eitler Entblößung, will ein bisschen Frieden. Also herrscht Ruhe im Land. Und Not in den Medien.

Exemplarisch die "Bild"-Zeitung und ihre Wirkung. Als die rot-grüne Koalition begann, genügte eine einzige vergiftete Botschaft von "Zwangsrente" auf der Titelseite, gar nicht mal besonders groß, um Pläne für eine gesetzlich angeordnete Riester-Rente zu schreddern. Heute lassen sich die Großkoalitionäre auch von einer Kampagne gegen Rentenkürzungen nicht beeindrucken - selbst die halbseitige Schlagzeile "Bild verklagt Renten-Lügner!" verpuffte wie ein Knallfrosch. Die Rente mit 67 - säkulare Wende in der Arbeitszeitdebatte und früher Garantie für anhaltenden Tumult - rauschte vorbei, bevor es jemand richtig begriffen hatte.

Das muss nicht so bleiben. Nach den Landtagswahlen am 26. März, wenn es an wirklich Strittiges geht, könnte die freiwillige Selbstkontrolle der Koalition schwinden. Es muss nun, um der Sache willen, mehr diskutiert werden. Doch die Politik hat dabei viel zu verteidigen: ihre wiedergewonnene Autonomie gegenüber den Medien. Und die können nicht einfach auf die Rückkehr der alten Verhältnisse hoffen. Wenn Kleines in flacher Landschaft groß wirkt, müssen sie lernen, wirklich Großes von Kleinem zu unterscheiden. Gelänge beides, wäre nicht weniger gewonnen als eine neue politische Kultur.

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Hans-Ulrich Jörges