Zwischenruf Katzenball in Berlin

Die Niederlage der deutschen Autoindustrie bei den Brüsseler Plänen zum Klimaschutz offenbart: In der Wirtschaftspolitik ist Deutschland blank - und die Verantwortlichen bieten ein bewegtes Bild des Jammers.

Fällt eigentlich niemandem etwas auf? Der deutsche Industriekommissar - Vertreter der größten Industrienation Europas in der Brüsseler EU-Kommission - kann einen Beschluss jener Kommission gegen die wichtigste Industriebranche dieser bedeutendsten Wirtschaftsmacht, die Automobilindustrie, nicht verhindern. Einen Plan zur Drosselung der Kohlendioxid-Emissionen, der deutsche Prestigekarossen ab 2012 drastisch verteuern würde, falls die Hersteller dem durch technische Wundertaten oder brachiale Kraftakte der Politik nicht doch noch entkommen. Die Kanzlerin der wichtigsten Wirtschaftsnation Europas - angeblich die mächtigste Politikerin und energischste Klimaschützerin auf dem Globus - zeigt sich überrascht von diesem Beschluss, den ausgerechnet der von ihr ins Amt beförderte Kommissionspräsident veranlasst hat. Tage vorher stand alles in der Zeitung. Aber nun ist die Kanzlerin sauer. Der Wirtschaftsminister der größten Industrienation Europas - nur durch Verkettung unglücklicher Umstände ins Amt gekommen - ist so unsichtbar, dass ihn beim lautstarken Protest ausgerechnet der Umweltminister - eigentlich oberster Klimaschützer und natürlicher Gegenspieler der Autoindustrie - vertritt.

Man hat sich ja an vieles gewöhnt. Aber dass dieser Katzenball tanzt, ohne dass das Publikum das Skurrile erkennt und sich über die deutschen Tänzer empört statt über die Brüsseler Musik, ist schier unfassbar. Denn drei Erkenntnisse drängen sich auf. Erstens: Deutschland ist in Brüssel unter Wert vertreten. Zweitens: Die Koalition führt zwar das große Wort bei Wirtschaft und Klimaschutz, folgt aber keiner kohärenten Strategie. Drittens: Dem Land fehlt überhaupt eine Wirtschaftspolitik.

Jeder für sich, die EU gegen alle. Lassen wir Sigmar Gabriel, den Umweltminister mit seinen speziellen Widersprüchen, beiseite. Günter Verheugen, der machtlose Kommissar, Angela Merkel, die Kanzlerin ohne ökonomischen Kompass, und Michael Glos, der abwesende Wirtschaftsminister, bilden das Dreieck der Schwäche. Verheugen, einst blendender Vertreter deutscher Interessen in Brüssel, hat sich durch eine so vehement wie vergebens dementierte Affäre mit seiner Kabinettschefin und eine bizarre Flucht vor den Klatschblättern über Monate hinweg unmöglich gemacht. Er war nicht mehr zu halten. Aber er wurde gehalten, aus parteipolitischem Kalkül. Hätte die Kanzlerin den Sozialdemokraten nämlich fallen gelassen, hätte die SPD auf einem Nachfolger aus ihren Reihen bestanden - und der wäre bei der Neubildung der Kommission 2009 erneut angetreten, für eine Verlängerung bis 2014. Läuft Verheugens Mandat dagegen erst 2009 aus, hofft die Union auf einen christdemokratischen Nachfolger, den ersten CDUKommissar in Brüssel seit einer gefühlten Epoche. Die Rechnung für dieses Machtspiel zahlt das Land.

Merkel, Glos und Verheugen bilden ein Dreieck der Schwäche. Die notorische Feigheit der Wirtschaftsführer verhindert, dass sie offen sagen, worüber sie heimlich herziehen

Wie die Rechnung für Glos, den nur allseitige Sympathie vor schonungslosem Verriss bewahrt. Der Christsoziale ist eine tragische Fehlbesetzung - und alle wissen das. Er leidet selbst am meisten darunter, dass ihn Edmund Stoibers Flucht aus Berlin auf den Stuhl presste, auf dem er nie sitzen wollte. Es ist, als wäre er gar nicht da. Glos hat kein Thema, keine Aufmerksamkeit und keine Autorität gefunden. Weder hat er öffentlich interpretiert und verteidigt, was gemeinhin als Aufschwung verniedlicht wird, in Wahrheit aber einen spektakulären Umbau der deutschen Wirtschaft meint, noch bereitet er nun, am Scheitelpunkt der Konjunktur, die Nation auf den Abschwung vor, der im neuen Jahr zu fürchten ist. Also drehen die Gewerkschaften ihre Lohnforderungen exakt zu dem Zeitpunkt hoch, an dem der Spielraum dafür schwindet. Glos ist der Minister für den Tag danach. Am Tag nach der Verabschiedung des Post-Mindestlohns im Bundestag warnte er vor einem Dammbruch bei den Mindestlöhnen - nicht etwa davor oder gar im Parlament. Doch niemand mag an dem Unglücklichen rühren. Die Kanzlerin schon gar nicht, die Ruhe in der Mannschaft sucht und glaubt, sie könne Wirtschaftspolitik selbst am besten, wie Außenpolitik. Aber mit den wachsenden Problemen erodiert ihr Ansehen. Die Gesundheitsreform mit staatlich fixierten Krankenkassenbeiträgen und der staatlich verankerte Postmonopol-Mindestlohn waren ihre schwersten Sündenfälle. Nur die notorische Feigheit und Liebedienerei der Wirtschaftsführer verhindert, dass sie öffentlich aussprechen, worüber sie in kleiner Runde herziehen: Angela Merkel ist keine grundsatztreue Gestalterin, sondern eine getriebene Machttaktikerin. Der Aufschwung war irgendwie da, er hat ihr das Geschäft besorgt, mit wohlig genossener Automatik. Nun geht er zu Ende. Und die Katzen tanzen.

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Hans-Ulrich Jörges