Wir brauchen den Begriff nicht zu fürchten. Also sollten wir auch die Debatte nicht scheuen. Norbert Lammert, der Bundestagspräsident, weicht aus, wenn er nach christlich-abendländischer Leitkultur ruft statt nach deutscher, wie es Friedrich Merz fünf Jahre zuvor getan hatte. Der Reflex des Zurückweichens, des Deckung-suchens, des Eintauchens in die europäische Kulturgeschichte ist verständlich - aber falsch.
Verständlich, weil "deutsche Leitkultur" nun einmal alle Klischees und Empfindlichkeiten historischen Schuldbewusstseins bedient, nur Missverständnis und Missbrauch zu provozieren scheint - nichts ist einfacher, aber auch infamer, als "deutsche Leitkultur" als Herrenmenschentum, kulturellen Größenwahn und begriffliche Auslieferung an Rechtsradikale zu denunzieren. Falsch, weil "deutsche Leitkultur" bei aufgeklärter Debatte und sorgfältiger Bestimmung des Sinngehalts eben etwas anderes meint als christlich-abendländische Tradition - gerade wegen der besonderen deutschen Geschichte und der Lehren, die das Land daraus gezogen hat. Vor allem aber, weil ein so geführter Streit nicht etwa nur der Bestimmung jener Werte dient, die Ausländer zu akzeptieren haben, wenn sie hier leben oder dauerhaft bleiben wollen, sondern auch der Selbstvergewisserung der Deutschen. Die Debatte über "deutsche Leitkultur" ist also keineswegs bloß eine Schule für "die Ausländer", womit in diesen Tagen vor allem die türkischen Muslime gemeint sind, sie ist eine Nach-Schulung der Nation.
Nationalhymne, Gebete und Gedichte in der Schule - all das ist läppisch. Wenn nicht gar kontraproduktiv. Auf jeden Fall irreführend. Es geht nicht um "Brüh im Kranze dieses Lichtes", um "Mein Herz ist fein" oder "Fest gewachsen in der Erden", um einen Musikantenstadl gegen die Idiotie also. Selbst mit Deutsch als Leitsprache auf den Schulhöfen ist es nicht getan - so umstritten diese Selbstverständlichkeit auch ist und so unverzichtbar für die Bildungschancen von Ausländerkindern. Wir müssen schon eine Schaufel tiefer graben, in jene Schichten, wo die historisch gewachsenen, geduldig erlernten oder mühsam erkämpften Werte dieser Gesellschaft verschüttet liegen. Die Leitkultur, auf die wir da stoßen, hat einen festen Kern, einen Leitwert, der der aktuellen Debatte Gewicht und Richtung geben kann: die Toleranz.
Es geht nicht um "Brüh im Kranze dieses Lichtes", um einen Musikantenstadl gegen die Idiotie also. Es geht um verschüttete Werte
Gewachsen im frühen Preußen, das Philosophen der Aufklärung, andernorts diskriminierten Juden und verfolgten Hugenotten eine Heimat gab. Deformiert durch den preußischen Militarismus. Zerschlagen und verschüttet im Massenmord der Nationalsozialisten. Geborgen, zusammengefügt und poliert in den Jahrzehnten danach. Und wieder gefährdet durch den frisch entbrannten Kampf der Kulturen. Die Islamwissenschaftlerin Christine Schirrmacher warnt davor, der Intoleranz der Islamisten nachzugeben. Sie wollten den Islam auch in Europa unangreifbar machen. "Das führt zu einer moslemischen Leitkultur." Für uns heißt das: Intoleranz gegenüber Intoleranten beweisen - Toleranz als Leitkultur erzwingen. Also das verteidigen und durchsetzen, woran es in den islamischen Ländern mangelt: Demokratie, Minderheitenschutz, Frauenrechte, Aufklärung, Trennung von Kirche und Staat.
Offenbar sind wir zu borniert und befangen durch den ritualisierten Meinungskampf, um zu begreifen, wie weit wir dabei schon sind. Der baden-württembergische Einbürgerungsfragebogen, der auf Toleranz gegenüber Homosexuellen in öffentlichen Ämtern und der Homo-Partnerschaft besteht, ist in seiner Nützlichkeit gewiss kritikwürdig. Aber dass eine CDU-Regierung in einem provinziell gefärbten Bundesland diese Quasi-Ehe zum Kernbestand deutscher Leitkultur erklärt, ist doch höchst bemerkenswert. Es werden Witze darüber gemacht, dennoch ist klar: Das gilt dann auch als Leitkultur für die Deutschen. Und für die CDU. So verstanden, sollte die Debatte nicht als "Gesinnungstest" niedergemacht, sondern aufgenommen und nach beiden Seiten geführt werden. Sie wäre auch an den Schulen höchst lehrreich. Und nicht nur dort. Und nicht allein zu diesem Thema.
Lammert möchte über die "geistige Verfassung der Nation" reden. Da hat er Recht. Das Nachdenken darüber, was wir "den Ausländern" abverlangen wollen, verlangt auch uns etwas ab. Die Besinnung auf jene Werte, die wir für uns als unabdingbar erachten: Toleranz, Respekt und Solidarität erfordern Konkretion; Gerechtigkeit in Zeiten eines rasenden Kapitalismus ruft nach neuen Lösungen - der Gewinn- und Kapitalbeteiligung für Arbeitnehmer beispielsweise. Die soziale Verpflichtung des Islam kann da übrigens beispielhaft sein. Der Inhalt der geplanten Einbürgerungskurse für Ausländer sollte mithin breit diskutiert und dann ins Internet gestellt werden: für die Inländer. Deutsche Leitkultur? Her damit!