Haben die nicht die besseren Leute? In den gewichtigeren Ämtern? Dachte man, als die Große Koalition begann. Der schlagfertig zupackende Peer Steinbrück für die Arbeit im Schuldenberg der Nation, der erfahren strippenziehende Frank-Walter Steinmeier für deutsches Selbstbewusstsein nach außen, der kauzig kantige Franz Müntefering für den Pestizideinsatz gegen die Landplagen des Kapitalismus, die unterschätzt trickreiche Ulla Schmidt für den Kampf gegen die Gesundheitsmafia...
Und daneben, draußen und frei, der sympathisch frische Matthias Platzeck. Die Union dagegen: eine Wahl-gedemütigte Kanzlerin, ein Wiederholer im Innen-, ein Anfänger im Wirtschaftsressort und sonst nur Gedöns. So schien es. Drei Monate später trauen gerade noch neun Prozent der Deutschen den Sozialdemokraten die Lösung der Probleme des Landes zu. Merkel-Mania? Platzeck-Pannen? Ja, schon. Auch. Aber die SPD hat vorrangig kein Personal-, sondern ein Politikproblem. Sie hat kein Ziel, keinen Ehrgeiz, kein Projekt. Sie kann nicht begreiflich machen, für wen und wozu sie da ist. Sie ist Inhalts-leer.
Und das nicht erst seit dem 22. November 2005, als Angela Merkel zur Kanzlerin gewählt wurde und Gerhard Schröder ging. Auch nicht erst seit 1999, als Oskar Lafontaine einpackte, Schröder die Ideenarmut mit erratischer Agenda-Politik überdeckte und seiner Partei das eigenständige Denken austrieb. Einen historischen Auftrag, ein mitreißendes Projekt kann sie seit dem Sieg der Mitbestimmung in den Großunternehmen nicht mehr formulieren. Fern im vorigen Jahrhundert.
Nun, ohne Kurs und Ziel, verpasst sie eine Chance nach der anderen. Und lässt sich von der CDU entwaffnen. Familien- und Bildungspolitik hat Platzeck als neue Bestimmung der Sozialdemokratie ausgegeben. Aber das ist Beiwerk, bestenfalls. Die Förderung der Kinderbetreuung war das Projekt der Christdemokratin Ursula von der Leyen, Gebührenfreiheit im Kindergarten die Idee der CDU, zuerst verwirklicht im schwarzen Saarland. Und die Kompetenzen für die Bildungspolitik werden per Föderalismusreform gerade an die Länder zurückgegeben - die Flächenstaaten bis auf die Mainzer Enklave mehrheitlich unionsregiert.
Die SPD ist Partei der kleinen Leute - oder sie ist nicht. Das unter ökonomisch schwierigen Bedingungen neu zu denken und dennoch erkennbar sozialdemokratisch zu handeln hätte vielfach unter Beweis gestellt werden können. Beispiel eins: Rente. Die Heraufsetzung des Rentenalters auf 67 Jahre, verantwortet von Franz Müntefering, ist Politik gegen die kleinen Leute. Mag sie auch rentenmathematisch begründet sein - jeder weiß oder muss befürchten, dass sie faktisch Rentenkürzung bedeutet. Also hätte die SPD den Mut aufbringen müssen, im Interesse der kleinen Leute vielleicht unpopulär, aber fürsorglich zu handeln - indem sie die Riester-Rente gesetzlich vorschreibt und ausbaut. Beispiel zwei: Studiengebühren. Es ist ein Gebot der Gerechtigkeit, Kinder aus wohlhabenden Familien zahlen zu lassen und Kinder aus bescheidenen Verhältnissen großzügig mit Stipendien auszustatten - statt die Gebührenfreiheit so pauschal wie chancenlos zu verteidigen und Kinder armer Leute belastet mit Studienkrediten ins Berufsleben gehen zu lassen. Beispiel drei: Ausländerintegration. Der Kampf gegen Parallelgesellschaften in schlechten Wohnquartieren, gegen Chancenlosigkeit an Unterklasse-Schulen, gegen ein neues Bildungsproletariat ist Sache der CDU geworden. Die SPD schweigt. Oder nörgelt.
Was sonst, wenn nicht die Beteiligung der Arbeitnehmer an Gewinn und Kapital, könnte zum historischen Projekt der SPD werden?
Beispiel vier, und nun geht es ans Herz der Arbeitnehmerpartei: Kombilöhne für Langzeitarbeitslose sind ein Produkt der CDU, die SPD liefert nur Mindestlöhne zu. Beispiel fünf: Heuschrecken-Abwehr. Top-Thema der SPD vor der Wahl, Flop-Thema danach. Der Schutz gesunder Firmen, wie des skandalös zerstörten Armaturenherstellers Grohe, vor aggressiv zersetzenden Hedgefonds wäre eine gesetzliche Anstrengung wert. Doch bei der SPD herrscht Funkstille - wie beim Beispiel sechs: betriebliche Bündnisse für Arbeit. Wer schützt die Arbeitnehmer, die Verzicht leisten, vor Vertragsbruch und Betrug durch die Arbeitgeber? Und schließlich Beispiel sieben, das schlagendste von allen: Gewinn- und Kapitalbeteiligung der Arbeitnehmer. Vom Bundespräsidenten vorgeschlagen, von der CDU postwendend aufgegriffen. Und von der SPD zaudernd beschwiegen. Was sonst, wenn nicht das, könnte zum neuen historischen Projekt der SPD werden?
Das Resultat: Die CDU ist auf dem Weg zurück zur Volkspartei, fleddert die Sozialdemokratie und okkupiert den Begriff der Gerechtigkeit - die SPD stolpert ins Abseits. Die CDU spannt ihren programmatischen Schirm auf - die SPD hakt sich darunter ein. Ändert sich daran nichts, heißt das für die Große Koalition: Die Sozialdemokraten werden ideeller und struktureller Juniorpartner - zur Arbeitsgemeinschaft der CDU.