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4. September 1989 - die erste Montagsdemonstration Der Tag, an dem ein Riss durch die DDR ging

Vor 25 Jahren entrollten zwei mutige Frauen DDR-kritische Plakate vor der Nikolaikirche in Leipzig. Es war die erste Montagsdemonstration und der Beginn der friedlichen Revolution.
Von Oliver Noffke

Sommer 1989, einem Volk reicht's. Seit vier Jahrzehnten schreibt die DDR ihren Bürgern vor, wohin sie reisen dürfen und wohin nicht. 28 Jahre lang schottet sich das Land eindrucksvoll durch die Berliner Mauer und den dahinter liegenden Todesstreifen vom Westen ab. Aber Erich Honecker ist alt und das System verkalkt, der Staat pleite. Schon lange funktionieren die Zahlen der Planwirtschaft nur noch nach dem Prinzip eines Potemkischen Dorfes, jenen Kulissenorten mit denen der russischen Zarin Katharina der Großen im 18. Jahrhundert ein schmuckes Neurussland vorgegaukelt wurde.

Der Ostblock bröckelt. Die Sowjetunion hat sich im Wettlauf mit den USA in den Bankrott aufgerüstet. Im August wird ein enger Vertrauter des Solidarność-Führers Lech Walesa zum Ministerpräsidenten von Polen. In Ungarn schwindet die Macht der dortigen sozialistischen Arbeiterpartei. Auch in der Fassade der DDR treten Löcher und Risse auf, die im Herbst außer Kontrolle geraten und das System zum Einsturz bringen werden. Was den Menschen im Sommer noch fehlt, ist ein Ort oder ein Symbol, zumindest jedoch das Wissen, dass auch andere genug haben.

Bei einem Friedensgebet am 4. September schmuggeln die erst 20-jährige Theologie-Studentin Katrin Hattenhauer und die 24-jährige Gesine Oltmanns vier Transparente an ihren Verfolgern von der Stasi vorbei in die Leipziger Nikolaikirche. Nach dem Gebet entrollen sie die Plakate in aller Öffentlichkeit. "Für ein offenes Land mit freien Menschen" steht auf einem von ihnen. Ein Satz, der zusammenfasst, was Millionen denken.

Die friedliche Revolution

Hattenhauer und Oltmanns sind nicht allein. Etwa 300 weitere stehen ihnen bei. Viele von ihnen wollen ausreisen. Der 4. September ist der perfekte Tag. In Leipzig ist Messemontag und Dutzende westliche Journalisten sind in der Stadt. Festnahmen durch Stasi oder Volkspolizei gibt es vor ihren Kameras nicht. Die (wahllosen) Verhaftungen verschiebt das Regime auf den folgenden Montag. Auch Hattenhauer wird es erwischen. Sie wird bis zum 13. Oktober in die Stasi-Untersuchungshaftanstalt in der Leipziger Beethovenstraße gesperrt. Jedoch, die Bilder, wie demonstrierenden Frauen an diesem 4. September Plakate aus den Händen gerissen werden, gehen um die Welt.

Der Anfang ist gemacht. Von nun an kommen jede Woche mehr Menschen nach Leipzig. Auch in Dresden und Plauen wird demonstriert. Das Zentrum des Protests bleibt allerdings die Nikolaikirche. Jeden Montag öffnen die Pfarrer Christoph Wonneberger und der erst kürzlich verstorbene Christian Führer die Pforten.

Am 9. Oktober skandieren 70.000 Menschen in den Straßen der Stadt "Wir sind das Volk" während die SED-Bonzen völlig realitätsfern das 40-jährige Bestehen der DDR feiern. Obwohl hunderte Sicherheitskräfte bereitstehen, greifen diese nicht ein. Ein Blutbad wie im Juni in Peking auf dem Platz des himmlischen Friedens bleibt aus. Als die Demonstranten auch an der Stasi-Bezirksverwaltung vorbei ziehen, der berüchtigten "Runden Ecke", fühlen sie sich als Sieger. In den folgenden Wochen kommen Hunderttausende. Und demonstrieren friedlich.

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