Als Zar Peter der Große im Mai 1703 an der Mündung des Flusses Newa seine Vision von einer Öffnung seines Reiches nach Europa verkündete, hielt ihn mancher Zeitgenosse für wahnsinnig. In den Sumpfgebieten am Finnischen Meerbusen, damals noch feindliches schwedisches Territorium, sollte Russlands neue Hauptstadt aus Stein als Fenster zum Westen gebaut werden. Der Zar hielt Wort: Auf den Knochen zehntausender Zwangsarbeiter entstand eine kühle, gigantische Metropole, die bis heute mit dem warmen Herzen des Riesenreiches, Moskau, in inniger Abneigung konkurriert.
Der Dualismus St. Petersburg-Moskau hat die russische Geschichte über Jahrhunderte geprägt. Während sich Moskau sich "russischer als Russland" gab, war Petersburg schon immer "europäischer als Europa". Baumeister aus dem Westen ließen in Rekordzeit ein architektonisches Gesamtkunstwerk entstehen. Italienische, deutsche, französische, holländische und englische Einflüsse vereinigten sich zu einem unvergleichlichen "Petersburger Stil".
Deutsche als "Mitbringsel" des Zaren
Petersburg wurde in seiner Geschichte mit Venedig, Versailles, Rom oder Amsterdam verglichen, aber nie mit einer deutschen Stadt. Dabei prägten die Deutschen wie kein zweites Volk das ausländische Leben in der Hauptstadt des Riesenreiches. Die ersten Petersburger Deutschen waren Techniker, Handwerker, Kaufleute, Fabrikanten, Offiziere und Ärzte, die Peter I. von seinen Reisen durch Europa mit nach Russland brachte.
Im 18. Jahrhundert waren knapp zehn Prozent der Petersburger Deutsche oder Deutschstämmige, insgesamt mehr als 10 000 Menschen. Eine Spezialität der Deutschen und auch der Schweizer war der Uhrenbau. Ein solches Handwerk kannten die Russen vor 200 Jahren noch nicht. Auch der Beruf des Arztes oder Apothekers wurde häufig von Deutschen ausgeübt. Das erste akademische Wörterbuch der russischen Sprache veröffentlichte ausgerechnet ein "Nemez" (Deutscher), Jakob Groth.
Den größten Einfluss auf Russland übte die deutsche Prinzessin Sophie Charlotte von Anhalt-Zerbst aus, die 1745 den zukünftigen Zaren Peter III. heiratete und nach St. Petersburg kam. Als Zarin Katharina die Große reformierte sie das rückständige Land und eroberte im Süden neue Gebiete, darunter die Krim.
Geschenkte Grundstücke und zinslose Kredite
In St. Petersburg wurden deutsche Unternehmer einst mit Angeboten überhäuft, von denen ein Investor aus der Bundesrepublik heute nur träumen kann. Unter den Zaren bekamen sie Grundstücke geschenkt, durften zinslose Kredite aufnehmen und brauchten fünf Jahre lang keine Steuern zahlen. Allerdings musste dafür die russische Staatsbürgerschaft angenommen werden. Auch der aus Deutschland stammende Kaufmann Heinrich Schliemann begab sich von St. Petersburg auf die archäologische Suche nach dem antiken Troja.
Das 20. Jahrhundert riss tiefe Wunden in das Verhältnis von Russen und Deutschen. Nach der anti-deutschen Hysterie im Ersten Weltkrieg sorgte die Sowjetmacht in den 1930er Jahren dafür, dass nichts mehr von der deutschen Gemeinde übrig blieb. Hitlers Truppen kesselten die in Leningrad umbenannte Stadt im Zweiten Weltkrieg ein. In der 900 Tage andauernden Blockade kamen mehr als eine Million Menschen zu Tode. Die Leiden jener Zeit sind bis heute nicht vergessen.
Russlands Fenster nach Europa - und umgekehrt
Wer in diesen Tagen als Gast durch die Straßen Petersburgs wandelt, erlebt Europas jüngste Metropole in ihrer ganzen Schönheit. Nach einem Abend im Ballett, in der Oper oder im Theater flanieren Tausende bis weit in die Nacht über den Newski-Prospekt. Wenn ab morgens um zwei Uhr die Newa-Brücken für den Schiffsverkehr hochgezogen werden, verfolgen Liebespärchen, einsame Gitarrenspieler und fröhliche Gesellschaften das Schauspiel von der scheinbar endlos langen Uferpromenade aus. In den berühmten Weißen Nächten erfüllt sich auch die zweite Vision Peters des Großen. Die Stadt Petersburg ist zugleich Europas Fenster nach Russland, durch das sich das Riesenreich zum Jubiläum von seiner schönsten Seite zeigt.