Teil 4: 1950 - 1967 "Geboren aus Träumen von der Erlösung"

Die Juden bauen im Gelobten Land ihren Staat auf, krempeln in den Kibbuzim die Ärmel hoch und feiern den ersten Sieg ihres Fußball-Nationalteams. Und vergessen bei all dem Jubel die Palästinenser - bis zum Sechs-Tage-Krieg.

Ich weinte, meine Hände zitterten", schreibt Golda Meir, die spätere Ministerpräsidentin, über ihre Gefühle bei der Unabhängigkeitserklärung. "Wir hatten es geschafft. Ein jüdischer Staat existierte, und ich, Golda Mabovitch Myerson, ich durfte diesen Tag erleben. Das lange Exil war vorbei. Von diesem Tag an waren wir eine Nation wie andere Nationen und zum ersten Mal seit 20 Jahrhunderten die Meister unseres Schicksals. Der Traum war wahr geworden - zu spät für diejenigen, die im Holocaust umgekommen waren, aber nicht zu spät für künftige Generationen."

Israel, "geboren nicht aus Träumen über eine Lösung, sondern aus Träumen über die Erlösung", so der Schriftsteller Amos Oz, beginnt sein Leben als bitterarmer, zutiefst bedrohter und dennoch vor Optimismus strotzender Staat. Nachdem sie den Krieg gewonnen und ihre 6000 Toten beweint haben, machen sich die ersten Israelis mit unglaublicher Energie daran, das ihnen zumeist völlig unbekannte Land im Nahen Osten in ein Zuhause zu verwandeln. Alles passiert in den "heroischen Jahren" zum ersten Mal. Und alles erscheint ihnen wunderbar: die ersten israelischen Briefmarken, die Veröffentlichung der ersten hebräischen Enzyklopädie, die Gründung des Weizmann-Instituts für Wissenschaft, die Einführung der Einkommensteuer, der erste israelische Wecker - er wird dem ersten Staatspräsidenten Chaim Weizmann geschenkt -, der erste Sieg einer israelischen Fußballmannschaft - 3:1 gegen Zypern -, der erste Bus der nationalen Gesellschaft Egged, die erste Lotterie, die erste Waschmaschine. Sie freuen sich sogar über den ersten bewaffneten Raubüberfall, der am 20. September 1948 in einem Cafe in Tel Aviv stattfindet, wo die Missetäter satte 35 Lira erbeuten, und auch über das erste Bordell in Jaffa, das, kaum geöffnet, prompt geschlossen wird. Denn selbst das gilt als Beweis für die so sehr angestrebte "Normalität".

Die Massen stoppen die Armee

Nur über die Parade am ersten Jahrestag der Unabhängigkeit sind sie enttäuscht: Die Armee, die laut Ministerpräsident David Ben Gurion vor "Pioniergeist und erzieherischer Wirkung" strotzt, ferner "die Nation mitgründen und die Wüste zurückerobern", als Kaderschmiede für "die späteren Führer der Nation" sowie als "Instrument der Vereinigung der Einwanderer" dienen soll, kommt nie an der Ehrentribüne in Tel Aviv an, wo in- und ausländische Würdenträger warten. Die Soldaten schaffen es einfach nicht, sich einen Weg durch die begeisterte Menge zu bahnen. Anderntags ist in der Zeitung "Maariv" zu lesen, "dass es vielleicht auch ein Moment von großer Schönheit war, dass an einem solchen Tag das Volk und nicht die Armee die Straßen eroberte. Es zeigt, dass wir trotz unseres Dursts nach Militärparaden zuerst und vor allem Juden sind".

Es ist die Zeit der großen Vorhaben und der ersten Person Plural: "Wir waren Freunde und Waffenbrüder, wir gaben uns mit wenig zufrieden und blieben bescheiden", so der Fernsehjournalist Nissim Mishal. "Damals war die Gruppe heiliger als die Familie, das Team wichtiger als der Einzelne, und Orchester wurden Solisten vorgezogen." Gemeinsam wollen sie die Immigranten integrieren, das Land besiedeln, die Armee aufbauen und die Wüste zum Erblühen bringen. Und gemeinsam stehen die ersten Israelis im Gelobten Land Schlange, um mit ihren Lebensmittelkarten rationierten Stockfisch zu kaufen oder Produkte der Staatsmarke "Lacol", zu Deutsch: "Für alle", die das Volk mit allem versorgt, von Schulranzen über Männerhemden und Möbel bis hin zum Schrubber.

Selbstverständlich sind fast alle Pioniere der Gründergeneration Anhänger des Sozialismus in seinen sämtlichen Schattierungen, zuvorderst Ben Gurion, der das Land mit Unterbrechungen bis 1963 regieren wird. Doch religiöse Parteien sitzen mit in der Regierung. Von Geburt an ist Israel eine Teil-Theokratie unter dem Monopol des orthodoxen Judentums.

Denn der Atheist Ben Gurion hatte mit den Rabbinern in einer Anwandlung von "Jiddischkeit" und vielleicht auch in der Erkenntnis, dass die Religion sein Volk schon länger eint als der Zionismus, den so genannten Status quo ausgehandelt. Wegen dieses "einseitigen Waffenstillstands des säkularen Judentums" (Amos Oz) gibt es in Israel weder zivile Ehen noch Scheidungen. Im Familienrecht herrscht die Halacha, das jüdische Gesetz. Kein Jude darf einen Nichtjuden heiraten, wenngleich im Ausland geschlossene Ehen anerkannt werden, und ein Jude, der Cohen heißt (hebräisch für Priester), keine geschiedene Frau. Ein so genannter Bastard, ein Kind, das nicht vom Ehemann seiner Mutter stammt, darf überhaupt nicht heiraten, ebenso wenig eine Witwe, deren Schwager sie nicht "freigegeben" hat, sowie all jene, an deren Judentum die Orthodoxie zweifelt.

"Bastarde" dürfen nicht heiraten

Das Miteinander von Moderne und Moses führt immer wieder zu Regierungskrisen und heftigen Kulturkämpfen. Anfang der sechziger Jahre wird ganz Israel in Atem gehalten vom Drama um den kleinen Yosale Shuchmacher, dessen ultra-orthodoxer Großvater ihn mit dem Segen des Jerusalemer Oberrabbiners gekidnappt und außer Landes verschleppt hat, weil er befürchtet, die unzureichend frommen Eltern würden aus dem Knaben einen "Sünder" machen. 1962 spürt der Geheimdienst Mossad Yosale in Brooklyn auf und bringt ihn nach Hause. Auch das Schicksal der Geschwister Langer beschäftigt die Nation. Sieben Jahre lang wird ihnen verwehrt, ihre jeweiligen Verlobten zu heiraten. Begründung: Sie seien Bastarde. Während Rabbis wie Richter über dem Fall brüten, kämpfen die beiden Muster-Israelis im Sechs-Tage-Krieg; heiraten dürfen sie erst Jahre später, nachdem Moshe Dayan persönlich interveniert.

Doch damals sind die orthodoxen Juden eine verschwindende Minderheit. Die Verkörperung des neuen Israeli ist der so romantische wie kriegerische Sabra, der in Israel geborene Pionier, gewandet in russische Bauernhemden, Khaki-Shorts und biblische Sandalen, eine Kreuzung aus Krieger und Bauer, aus Träumer und Pragmatiker. "Der Sabra", so Mishal, "hatte keine Vergangenheit, er kam direkt aus dem Mittelmeer, die vollen Haare windzerzaust, an der Seite eine Freundin, rabenschwarz bezopft oder goldgelockt, ebenfalls in Shorts gekleidet." Dieses Traumpaar der frühen Jahre, tausendfach in den Tageszeitungen abgebildet, opfert selbstlos seine Jugend der Eingliederung von Einwanderern oder der Agrikultur, lebt in winzigen Zimmern mit Eisenbett, darüber ein übervolles selbst geschreinertes Bücherbord, darauf die gesammelten Werke von Puschkin, Tolstoi, dem Nationalschriftsteller Bialik und Karl Marx. Vorzugsweise ist es in Kibbuzim anzutreffen, jenen original hebräischen kommunistischen Kollektivsiedlungen überall im Land, in denen hoch motivierte und meschuggene Träumer seit Anfang des Jahrhunderts außer ihrer Zahnbürste alles miteinander teilen, des Nachts über Trotzki und Tschechow streiten und zugleich - ein wahres Wunder - erfolgreich Rinder züchten, Oliven anbauen und in sämtlichen Kriegen kämpfen.

Dieser brandneue, muskelbepackte und dabei musische "homo israelicus" ist das genaue Gegenteil seiner Brüder und Schwestern in der Diaspora. Er glaubt nicht an Gott, sondern an Traktoren, er macht keine Geschäfte, sondern beackert den Boden, er lässt sich nicht herumschubsen, sondern kriegt und siegt. Und er lebt nach Ben Gurions Devise: "Es ist nicht wichtig, was die Goyim sagen, sondern was die Juden tun."

Simple Strategie der Streitkraft

Die Israelis, deren Land im Norden eine nur knapp zehn Meilen breite Wespentaille hat und deren Städte überall in Schussweite von Staaten liegen, die einen wirtschaftlichen, diplomatischen und verbalen Krieg gegen sie führen, werden ein Volk unter Waffen. Männer wie Frauen leisten jeweils drei und zwei Jahre Militär- und später Reservedienst. Nach einer Generalmobilmachung dauert es nicht einmal vier Tage, bis über 300 000 Israelis einsatzbereit sind, davon fast die Hälfte in Kampfeinheiten, die in anderen Armeen nur 20 Prozent der Truppe ausmachen. Die Strategie dieser unorthodoxen Streitkraft, in der Offiziere mit Vornamen angesprochen werden, ist relativ simpel: Israel kann sich weder einen langen Krieg noch eine andauernde Krise, noch Schlachten auf dem eigenen Territorium leisten. Deswegen müssen Auseinandersetzungen mit dem Feind kurz und entscheidend sein und möglichst nicht auf eigenem Territorium, am besten in einem "vorbeugenden" Krieg.

Diese Logik führt geradewegs zur Sinai-Kampagne 1956, als Israel gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien Ägypten angreift. Der Vorwand ist Nassers Nationalisierung des Suezkanals; Israels Ziel ist die Zerstörung ägyptischen, durch massive Waffenlieferungen aus der Sowjetunion frisch gestärkten Militärpotenzials. Tsahal, Israels Armee, erobert binnen weniger Tage die gesamte Sinai-Halbinsel. "In einer der glanzvollsten Kampagnen der Weltgeschichte sind wir zu dem Ort zurückgekehrt, an dem uns die Thora gegeben und unsere Nation zum auserwählten Volk wurde", tönt Ben Gurion in der Knesset.

Doch die Supermächte pfeifen die drei "Musketiere" energisch zurück. Danach ist es zwar elf Jahre lang ruhiger an Israels friedlosen Grenzen, doch radikalisiert der Konflikt die arabische Welt, die anschließend offen von der Vernichtung des "zionistischen Gebildes" spricht, das sich ausgerechnet mit den abgehalfterten ehemaligen Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien zusammengetan hatte. "Was lange behauptet wurde, schien nun bewiesen", so der israelische Historiker Benny Morris. "Israel war die Kralle des Imperialismus im Nahen Osten."

Bürger zweiter Klasse

Inzwischen sind die Palästinenser, ihr Leben, ihre jahrhundertealte Geschichte in diesem Land, spurlos gelöscht worden aus dem kollektiven Gedächtnis der neuen Nation. Den 130 000 Arabern, die nach der Gründung Israels im jüdischen Staat geblieben sind, wird gleich 1949 die israelische Staatsbürgerschaft gegeben, einige von ihnen werden Knesset-Abgeordnete, zumeist für die Kommunistische Partei. Trotzdem leben sie die nächsten 17 Jahre unter willkürlichem Kriegsrecht und sind für die jüdischen Israelis fast unsichtbar. Tausende werden enteignet, "aus Bauern wurden Landarbeiter für den jüdischen Markt", so der palästinensische Parlamentarier Azmi Bishara. Bis heute bleiben sie Bürger zweiter Klasse, finanziell diskriminiert, misstrauisch beäugt als "Fünfte Kolonne", ausgeschlossen vom Militärdienst. Der viel beschworene "jüdische und demokratische Staat" ist "demokratisch für die Juden und jüdisch für die Araber", diagnostiziert die Labor-Abgeordnete Yael Dayan.

Für die anderen, die Flüchtlinge, gilt, was der palästinensische Dichter Mahmoud Darwich, 1942 in Birwa nahe Akko geboren, einmal sagte: "Israel wurde nicht neben mir erschaffen, sondern auf mir. Ich existiere nicht." Fast 400 Dörfer verschwinden von der Landkarte, ihre Namen werden bis heute in den palästinensischen Flüchtlingslagern wiederholt wie Beschwörungsformeln.

Niemand kann sich allerdings damals, in Zeiten weltweiter Vertriebenen-Katastrophen von Europa bis Indien, vorstellen, dass einzig die Palästinenser dazu verdammt sein werden, für Generationen in diesen Lagern zu leben. 3,8 Millionen sind es mittlerweile, staatenlose Mündel der United Nations Relief and Work Agency (UNRWA). Auch von ihren arabischen Brüdern werden sie missbraucht - als menschliche Mahnmale gegen die "zionistische Aggression". Allein Jordanien bietet ihnen die Staatsangehörigkeit an.

Das Leid der von ihnen vertriebenen Flüchtlinge - und die Bedrohung, die sie bis heute darstellen - ist den Israelis damals ziemlich gleichgültig. Palästinenser sind "Araber", und "Araber" sind "Terroristen", die heimlich die Grenze zu ihrer ehemaligen Heimat überschreiten, um Anschläge auszuführen. Einzig Moshe Dayan findet einmal, auf der Beerdigung eines Soldaten, die richtigen Worte: "Lasst uns keine Schuld bei den Mördern suchen. Was können wir gegen ihren schrecklichen Hass auf uns sagen? Seit Jahren sitzen sie nun in ihren Flüchtlingslagern und haben gesehen, wie wir vor ihren Augen ihr Land und ihre Dörfer, wo sie und ihre Vorfahren einst lebten, in unsere Heimat verwandelt haben."

"Grüße unser Haus von uns, Fremder", schreibt Jahrzehnte später Darwich in einem herzzerreißenden Gedicht. "Die Tassen für unseren Kaffee sind noch da/ spürst du daran den Geruch unserer Finger.../ Sagst Du Deiner Tochter mit ihrem Zopf und ihren dichten Augenbrauen, dass sie einen abwesenden Kameraden hat, der sie gerne besuchen würde.../ Nur um den Spiegel zu durchqueren und ihr Geheimnis zu sehen/ Zu sehen, wie sie an seinem Platz ihr Leben lebt."

Niemand richtet den Gruß aus. Zwar befällt den späteren Ministerpräsidenten Levi Eshkol angesichts der verlassenen Dörfer, der geplünderten und ausgebrannten Häuser und der "Überbleibsel einer für immer verschwundenen Vergangenheit" ein Gefühl von Entsetzen. "Ich wurde überwältigt von Visionen und Gerüchen, die meinen Kopf durchdrangen, mein Gehirn, mein Blut, mein Herz." Doch dann macht er sich daran, die ausgestorbenen Behausungen umzuwandeln in dringend benötigte Wohnungen für neue Einwanderer. Zwar wird das "Gesetz der Rückkehr", das allen Juden auf Erden die israelische Staatsbürgerschaft garantiert, erst im Juli 1950 verabschiedet. Doch Ben Gurion hebt sofort nach der Unabhängigkeitserklärung sämtliche Hindernisse für die Masseneinwanderung auf und scheut keine Kosten, um Israel zu bevölkern. Ihn treibt die Angst, dass "die Juden, die Tausende von Jahren eine Nation ohne Staat waren, jetzt einen Staat ohne Nation bekommen".

Operation "Fliegender Teppich"

Die Furcht erweist sich als unbegründet: Obwohl bis heute mehr Juden außerhalb als innerhalb Israels leben, schlägt die Einwanderung der frühen Jahre vermutlich sämtliche Rekorde der Weltgeschichte: Wohl kaum ein Staat dürfte seine Bevölkerung kraft Immigration innerhalb so kurzer Zeit mehr als verdoppelt haben. Gab es zur Zeit der Staatsgründung etwa 600 000 Juden in Israel, sind es Ende 1951 bereits 1,3 Millionen. Die gesamte jüdische Bevölkerung des Jemen - etwa 50 000 Menschen - wird 1949 in der Operation "Fliegender Teppich" ausgeflogen, ein Jahr später folgen die Operationen "Ezra" und "Nehemiah", mit denen 120 000 irakische Juden nach Israel gebracht werden. Um ein Haar kollabiert Israel, das sich damals in einer blockfreien Politik versucht und noch nicht am Geldtropf der USA hängt, unter der finanziellen Last der Einbürgerung: 700 000 Dollar sind nötig, um die Immigranten aufzunehmen, doch so viel macht nicht einmal das gesamte Budget des Landes aus.

Darum trifft Ben Gurion eine der schwierigsten Entscheidungen seiner politischen Karriere: Er entschließt sich zu Verhandlungen mit der Bundesrepublik über Reparationszahlungen für den millionenfachen Mord am jüdischen Volk. Die allermeisten Israelis sind zutiefst entsetzt. Viele sind der Meinung des aus Deutschland stammenden "Ha?aretz"-Chefredakteurs Gershom Schocken, der ihnen per Gesetz verbieten will, in Deutschland zu leben, die deutsche Grenze zu überschreiten und Kontakt mit Deutschen zu haben. Deutschland ist "der Paria unter den Nationen", so der damalige Minister Josef Burg.

Als im Januar 1952 über das deutsche Angebot abgestimmt wird, Waren und Dienstleistungen in Höhe von rund 800 Millionen Dollar zu liefern, kommt es vor der Knesset zur bisher größten Demonstration in Israel. Menachem Begin, den der Premierminister stets wie einen Aussätzigen behandelt, als "Faschisten" tituliert und nicht einmal beim Namen nennt - bei Parlamentsdebatten ist er für ihn nur "der Mann neben Doktor Bader" -, hat Zehntausende gegen "den Verkauf der Ehre des jüdischen Volks" mobilisiert. "Jeder Deutsche ist ein Nazi, jeder Deutsche ist ein Mörder. Adenauer ist ein Mörder, alle seine Mitarbeiter sind Mörder. Aber denen da geht es bloß ums Geld", ruft ein zutiefst erschütterter Begin, dessen gesamte Familie in Polen von den Deutschen ermordet wurde.

Zum Schluss jedoch obsiegt Ben Gurions pragmatisches Argument: "Wir können nicht zulassen, dass die Mörder unseres Volkes auch noch die Nutznießer von dessen Vermögen sind." Das Reparationsabkommen leitet die bis heute fragile "Normalisierung" zwischen den beiden Staaten ein: 13 Jahre später stimmt die Knesset für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Bundesrepublik, wieder gegen den erbitterten Widerstand Begins, der sagt: "Die Hände der Deutschen sind voll jüdischen Bluts. Es kann darum weder eine Absolution geben noch Verzeihen, und normale Beziehungen zwischen uns und ihnen werden nie möglich sein."

Demütigung bei der Ankunft

"Es ist so gut, eine Million zu sein", hat inzwischen ekstatisch der Poet Nathan Alterman die Einwanderung besungen, "bei ihrem Anblick füllen sich deine Augen mit glänzenden Tränen." Doch erweist sich die Integration der zumeist völlig traumatisierten Neuankömmlinge als äußerst schwierig, weswegen Giora Yoseftal, zuständig für Immigration bei der Jewish Agency, zu der ernüchternden Erkenntnis kommt: "Israel will die Einwanderung, aber die Israelis wollen keine Einwanderer." Etwa 100 000 zumeist orientalische Neuankömmlinge, Sephardim, vegetieren über Jahre arbeitslos in Lagern, so genannten Maabarot, wo aus Europa stammende junge Aschkenasim sie aus Furcht vor Läusen mit DDT besprühen - eine Behandlung, die übrigens auch den Palästinensern in ihren Lagern zuteil wird, wo die UNRWA mit schöner Regelmäßigkeit "Sauberkeitstage" veranstaltet. Die jungen Israelis drängen die neuen Mitbürger, ihre Kultur und ihre religiösen Gebräuche schnellstens zu vergessen, Hebräisch zu lernen und ihre "orientalische Zurückgebliebenheit" aufzugeben. Andere landen in tristen "Entwicklungsstädten".

"Tagsüber warteten wir auf den Einbruch der Nacht, nachts warteten wir auf den Morgen", erinnert sich der spätere Außenminister David Levy. Er stammt aus Rabat in Marokko und kommt nach Beit She?an, "damals ein absolut grauenvoller Ort mit ein paar Hütten und ohne Elektrizität. Es gab nichts zu tun. Wir waren gekommen, weil wir Israel aufbauen wollten, und jetzt merkten wir: Israel brauchte uns gar nicht."

Damals, so der Schriftsteller Eli Amir, werden "soziale Brüche und ethnische Abgründe geschaffen und das Gefühl der Bitterkeit gesät". Aus den orientalischen Juden, heute die Mehrheit der Bevölkerung, rekrutiert Israel sein Proletariat, noch immer sind sie unterrepräsentiert in Führungspositionen, Sabra-Errungenschaften wie die Kibbuzim bleiben ihnen weitgehend verschlossen. In den Augen der herrschenden Aschkenasim sind sie für Jahrzehnte "Menschenstaub", wie Ben Gurion sie einmal mit seiner Verachtung für die Diaspora nennt.

Auch gegenüber den Überlebenden des Dritten Reichs hegen die neuen Israelis gemischte Gefühle. Wer ihnen begegnet, schreibt der Schriftsteller Hanoch Bartov, "wird erfüllt von der Angst, zu ihnen zu gehören". "Sabon" werden sie von den selbstbewussten Sabras verächtlich genannt - Seife. Zwar beschließt Israel 1951 per Gesetz die Verfolgung von Nazis und ihren Helfern und später die Errichtung der Gedenkstätte Yad Vashem. Doch bis zum Prozess gegen Adolf Eichmann, einen der Hauptakteure der Judenvernichtung, der 1960 aus Argentinien entführt und nach einem mehrmonatigen Prozess 1962 hingerichtet wird, spielt der Holocaust nur eine sehr untergeordnete Rolle im öffentlichen Leben. Er gilt als Höhepunkt der "unwürdigen Schande und Feigheit", der sich laut einem lange verwendeten israelischen Schulbuch "die Diaspora und die Juden im Shtetl" schuldig gemacht haben.

Doch unterschwellig können sich die Israelis damals wie heute nicht von ihrer entsetzlichen, unendlich traurigen Geschichte befreien, von der Ungeheuerlichkeit, dass "die Juden als Volk ausgerottet werden sollten - nicht für etwas, was sie getan oder nicht getan hatten, nicht für ihren Glauben oder ihre Politik, sondern einfach nur, weil sie da waren, weil sie existierten", wie der israelische Publizist Amos Elon schreibt. "Hinter der Fassade der Zuversicht und Zielstrebigkeit, des Muskelspiels und all der frisch eroberten Macht, hinter der beeindruckenden Kulisse einer jungen, neuen Gesellschaft von freien Menschen verbirgt sich Konfusion, Neurose, eine zwischen Erinnerung und Ablehnung schwankende Haltung, die eine der Wurzeln für das israelische Temperament ist. Das Bild des Israeli von sich selbst ist vor allem das Bild absoluter Einsamkeit."

Klaustrophobische Isolation

Tatsächlich leben sie im ewigen Ausnahmezustand und in geradezu klaustrophobischer Isolation. Und jedes Mal, wenn ihre arabischen Gegner aus Unkenntnis der europäischen Geschichte und der labilen israelischen Psyche mit den "Protokollen der Weisen von Zion" wedeln, die Nasser seinen Staatsgästen als Beweis für die diabolischen Intentionen der Israelis zur Lektüre empfiehlt, jedes Mal, wenn sie in ihren Zeitungen schreiben, Eichmann sei ein "Held", gefallen im "Heiligen Krieg", wenngleich man den Deutschen vorwerfen müsse, dass sie "keine einzige jüdische Siedlung" in Nahost bombardiert hätten, jedes Mal, wenn sie von "Vernichtung" und "Ausrottung" sprechen, löst es bei den Israelis einen "kulturellen Reflex" aus. "Dieser Reflex", so Elon, "ist eine stärkere Waffe als ein Panzerbataillon." Ain brera!, lautet dann ihre Devise, "wir haben keine Wahl".

Genau das denken sie, nachdem Nasser 1967 seine Truppen mobilisiert hat und ihnen via Radio Kairo entgegentönt: "Wir werden Israel von der Landkarte auslöschen." Die Frage, ob das wirklich ernst gemeint ist, stellt sich den Israelis nicht. Ihr Verteidigungsminister Moshe Dayan hat auf diese Gelegenheit schon lange gewartet. Israel holt zu einem vernichtenden Schlag aus, zerstört die gesamte ägyptische Luftwaffe und erobert binnen sechs Tagen den Sinai, den Gazastreifen, das Westjordanland und Ost-Jerusalem nebst Tempelberg und Klagemauer. Dort begegnen die Israelis ihrer biblischen, mystischen Geschichte wieder. Und vor allem den Menschen, an die sie in den letzten 19 Jahren kaum einen Gedanken verschwendet hatten: den Palästinensern.

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Stefanie Rosenkranz

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