Die Ampel-Koalition leidet unter Katerstimmung. Das Bundesverfassungsgericht hat ihre Finanzpläne für rechtswidrig erklärt. Kredite von 60 Milliarden Euro, die eigentlich für die Coronanotlage gedacht waren, dürfen jetzt nicht einfach fürs Klima aufgenommen werden. Das ist kein Grund, die Folgen für die Klimapolitik zu beklagen. Es ist ein Grund, ein Hohelied auf das Bundesverfassungsgericht zu singen. Weil es dafür sorgt, dass die Regierung in diesem Land nicht machen kann, was sie will. Es bringt ihr notfalls bei, wie man das Wort Demokratie buchstabiert. Und erinnert sie daran, sich an die Verfassung zu halten.
Häftlinge dürfen ausfällig werden
Das Bundesverfassungsgericht ist für alle da: Jeder Bürger, jede Bürgerin kann nach Karlsruhe ziehen, wenn er oder sie sich in seinen oder ihren Grundrechten verletzt fühlt. Zwar sind die Aussichten gering, trotzdem schützt es die Schwachen. Längst nicht alle Urteile sorgen für Schlagzeilen: In Bayern hatte ein Insasse seiner Verlobten geschrieben, die Wärter seien Arschlöcher und Bayern sei ohnehin ein "Nazi- und Bullenstaat". Die JVA fing den Brief ab. Amtsgericht, Landgericht und Oberlandesgericht fanden das richtig. 2021 stellte das Bundesverfassungsgericht klar: Häftlinge dürfen in Briefen an Angehörige JVA-Beamte beleidigen und auf den Staat schimpfen. Das ist kein Grund, Briefe abzufangen. In privater Post darf man schon mal ausfallend werden.
Seit 1951 wacht das BVG in diesem Land über die Verfassung. Es wurde als Lehre aus der Nazizeit geschaffen. Solche Kontrollinstanzen sind keine Selbstverständlichkeit, wie Beispiele aus anderen Ländern zeigen: In Polen ist der Verfassungsgerichtshof ein "verlängerter Arm der PiS-Regierung", wie Katarina Barley, Vizepräsidentin des Europaparlaments, es formulierte.
Gerichte werden auf Regierungslinie gebracht
In Ungarn wurde 1990 ein Verfassungsgericht geschaffen, das Gesetze der Orban-Regierung kassierte, darunter eine umstrittene Wahlrechtsreform. Orban entmachtete das Gericht daraufhin mithilfe des Parlaments. Seither sind die Gerichte auf Regierungslinie.
Vor den Terroranschlägen der Hamas Anfang Oktober gingen die Menschen in Israel auf die Straßen. Einer der Gründe: Das Oberste Gericht sollte entmachtet werden. Der Netanyahu-Regierung waren die Richter zu aufmüpfig geworden. Sie sollten eingeordnet werden.
Kein Schnelldurchlauf beim "Heizungsgesetz"
Hierzulande undenkbar: Im Juli erst wies der Zweite Senat die Ampel-Koalition an, das sogenannte "Heizungsgesetz" nicht im Schnelldurchlauf durchs Parlament zu peitschen. Die Ampel-Regierung wollte die zweite und dritte Lesung des Gesetzes innerhalb einer Sitzungswoche abhandeln. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Thomas Heilmann fühlte sich überfahren, zog nach Karlsruhe und bekam recht.
2021 machte das Bundesverfassungsgericht der Regierung klar, dass die Klagen einiger Umweltaktivisten gegen die halbherzige Klimapolitik berechtigt seien. Die 1,5-Grad-Grenze des Pariser Klima-Abkommens sei verfassungsrechtlich verbindlich.
Bei der Sterbehilfe korrigierten die Karlsruher das Strafgesetzbuch. "Die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung" sei – anders als im Paragrafen 217 festgeschrieben – nicht strafbar. Menschen hätten ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Eine gute Nachricht für Todkranke, die aus dem Leben scheiden wollen. Und Vereine, die ihnen dabei helfen.
Kein Kruzifix mehr in Schulen
Viele Entscheidungen sind in Vergessenheit geraten. Das Bundesverfassungsgericht sorgte 1995 dafür, dass die Kruzifixe in bayerischen Schulen abgehängt werden mussten. Dass man in diesem Land Tucholsky zitieren darf ("Soldaten sind Mörder") hat das Bundesverfassungsgericht ebenfalls sicher gestellt. Natürlich kann man über das Zitat streiten, aber es ist von der Meinungsfreiheit gedeckt. Das Bundesverfassungsgericht schaffte 2013 die Ungleichbehandlung von homosexuellen Paaren beim Ehegattensplitting ab.
Für meinen Geschmack hätte das Oberste deutsche Gericht in der Corona-Krise ruhig mal auf den Tisch hauen können. Die Richter kritisierten die Schulschließungen zwar, hielten die Einschränkungen der Freiheitsrechte während der Pandemie ansonsten allerdings für verfassungskonform. Das brachte ihnen zurecht Kritik ein. Aber ansonsten machen die Männer und Frauen in ihren roten Roben einen guten Job. Und einen wichtigen.
Dieser Tage sind alle möglichen Demonstrationen in Deutschland angemeldet. "Kein roter Teppich für Erdogan", fordern Demonstranten in Berlin. Die Jugend geht gegen die "Bildungskrise" auf die Straße. Und sogar gegen die "rassistische Polizeigewalt in Griechenland" wird protestiert. Vielleicht sollten die Menschen mal mit Transparenten auf die Straße gehen, auf denen steht: "Hoch lebe das Bundesverfassungsgericht."