Man darf davon ausgehen, dass Friedrich Merz schon den ein oder anderen Gedanken daran verschwendet hat, wie das wäre: nächster Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zu sein. Erbe von Adenauer, Erhard, Kohl. Hüter der Richtlinienkompetenz. Letztverantwortlich für das Wohl des deutschen Volkes, dessen Nutzen zu mehren er mit Eidesformel schwören müsste. So wahr ihm Gott helfe.
Keine Frage, ein attraktives Amt, für das sich drei mühsame Anläufe auf den CDU-Vorsitz am Ende gelohnt haben könnten. Aber auch ein Job, dessen Stellenbeschreibung seit dieser Woche um ein paar entscheidende Spiegelstriche länger geworden ist. Das Bundesverfassungsgericht zwingt nicht nur Olaf Scholz und seine Ampel zum Kassensturz, nein, es lässt auch der nächsten Regierung wenig Spielraum, das zu finanzieren, was finanziert werden muss.
Das Urteil aus Karlsruhe lässt sich in dieser Hinsicht auf zwei Arten lesen. Es setzt einem möglichen Kabinett Merz I schon jetzt Grenzen, was rechtlich möglich ist. Und gleichzeitig ermahnt es eine künftige Koalition, endlich zu reformieren, was politisch notwendig ist. Das Verbot von heute ist ein Gebot für morgen. Man muss das Urteil als höchstrichterliche Bestätigung verstehen, dass die Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form ungeeignet ist, der Wirklichkeit angemessen zu begegnen.
In Zeitenwende-Zeiten, in denen Kriege und Klimakrise unsere Freiheit bedrohen, kann das Versprechen einer Bundesregierung an die nächste Generation schließlich nicht sein: Die Welt mag brennen, die deutsche Wirtschaft darben, aber schaut doch mal, wir halten brav die Schuldenbremse ein und drücken unsere Verschuldung unter 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Nein danke, Boomer.
Warum Merz gewonnen hat und doch einen Plan braucht
Wenn man so will, hat sich Friedrich Merz mit der Klage gegen den Nachtragshaushalt der Ampel das Leben ein bisschen schwerer gemacht. Das kann und sollte man ihm nicht vorwerfen. Er ist der Oppositionsführer, er macht nur seinen Job. Aber wenn Merz es ernst meint mit der Kanzlerkandidatur und dem Wohl des deutschen Volkes, muss er jetzt damit beginnen, eigene Antworten auf die drängenden Fragen zu finden: Wie finanziere ich die notwendigen Investitionen in Infrastruktur, Rüstung und Digitalisierung? Wie erhalte ich den disziplinierenden Charakter der Schuldenbremse und schaffe zugleich mehr Flexibilisierung?
Wer Politik wie ein Fußballspiel betrachtet, was schonmal vorkommen soll, mag diesen Gedanken seltsam finden. Für den sind Merz und seine Unionsfraktion die Mannschaft der Stunde. 1:0 gewonnen in Karlsruhe, dabei souverän die wacklige Dreierkette der Ampel ausgespielt – und das ausgerechnet kurz vor dem wichtigsten Champions-League-Spiel des Gegners, der Haushaltsbereinigungssitzung. Da kann man sich doch nur so freuen, wie CDU und CSU sich freuten: Was für eine Klatsche für die Ampel, was für ein historischer Tag!
Warum also sollen sich die Gewinner nun mit den Problemen der Verlierer plagen?

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
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Ganz einfach, weil Politik eben nicht Fußball ist. Wer Vergleiche sucht, findet sie nicht im "Kicker", sondern im Haus der deutschen Geschichte. Immer wieder haben Kanzler und Bundesminister gegen die Traditionen ihrer eigenen Partei zukunftsweisende Entscheidungen durchgesetzt. Sollte Friedrich Merz Kanzler werden, wird das sein Kosovo-Moment, seine Agenda 2010. Die Schuldenbremse mag in ihrer abstrakten Anmutung als Gesetz gewordene schwäbische Hausfrau vor allem im liberal-konservativen Lager große Zustimmung finden. Umso wichtiger ist es, dass Merz sie reformiert und niemand anderes. In der Politik gibt es dieses Bonmot: Only Nixon could go to China. Nur der konservative Republikaner konnte als US-Präsident das Verhältnis zu den Kommunisten in Peking verbessern.
Merz weiß selbst nur zu gut, was das auf ihn übertragen bedeutet. Nur der konservative Knochen aus dem Sauerland, der bei einer amerikanischen Großkapitalistenbude seine Vermögensbildung abgeschlossen hat, kann den zweifelnden Deutschen glaubhaft vermitteln, warum Investitionen in die Bahn, in Wind und Solar, in Stromtrassen und Wasserstoffnetze keine grün-ideologische Idee von Utopia sind – sondern alternativlos.
Was Friedrich Merz vorschlagen könnte
Merz hätte verschiedene, konkrete Optionen zur Auswahl. Es mangelt nicht an Ideen, wie der Bund auch im Rahmen der Schuldenbremse mehr Kredite aufnehmen könnte als jetzt. Er könnte auch bei Sozialdemokraten und Grünen um ein Sondervermögen "Klima und Infrastruktur” werben, abgesichert im Grundgesetz und gleich mit Tilgungsplan versehen. Schlicht und seriös, ohne Tricksereien.
Der CDU-Chef könnte sich dafür zunutze machen, was sich unmittelbar nach diesem Urteil zeigt. Es ist schließlich nicht so, als seien nur “Nice to have"-Projekte gefährdet, die ein überzeugter Christdemokrat ohnehin für Fantasien von der grünen Wünsch-Dir-was-Liste hält. Nein, bedroht sind auch Investitionen, die überzeugte Marktwirtschaftler der FDP mindestens mal mittragen.
Niemand kann und sollte von Merz erwarten, sich vom Prinzipien-Paulus zum Schulden-Saulus zu wandeln, der die Bundesdruckerpresse anwirft. Aber darum geht es gar nicht. Es geht um eine pragmatische Haushalts- und Finanzpolitik in allerbester christdemokratischer Tradition: Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?!
Der CDU-Chef könnte sich dabei zunutze machen, dass Industrie und Handwerk mit Schrecken auf das Urteil der Verfassungsrichter schauen – klassisches Unionsmilieu. Und nicht zuletzt könnte ein künftiger Kanzlerkandidat Merz in diesen Tagen der offensiven Wertschätzung für die Verfassungsrichter auf ein weiteres Urteil verweisen. Es stammt aus dem April 2021. Auch die Dringlichkeit der Klimakrise ist längt in Karlsruhe angekommen.