An diesen Tagen ist nichts normal, wirklich gar nichts. Seit wenigen Stunden klafft im Bundeshaushalt ein Loch, in das 60 Milliarden Euromünzen passen würden. Business as usual? Ist nicht drin. Scholz versucht es trotzdem.
Mittwochmittag, die Regierungsbefragung im Bundestag. Er wolle zunächst einmal auf das Urteil aus Karlsruhe zu sprechen kommen, sagt Scholz eingangs in seiner gewohnten Kanzlerkühle. Es werde jetzt genau geprüft, welche einzelnen Auswirkungen der Richterspruch habe. "Das ist eine Entscheidung, die die Bundesregierung und sicher auch der Haushaltsgesetzgeber beachten wird."
Hämisches Gelächter aus der Opposition, betretenes Schweigen in den Ampel-Reihen. Alle wissen: Dieser Tag kann die Regierung in eine veritable Krise stürzen.
Das Bundesverfassungsgericht hat den zweiten Nachtragshaushalt 2021 für nichtig erklärt. Das Geld, das für die Bekämpfung der Coronakrise bestimmt war, darf nicht für den Klimaschutz verwendet werden. 60 Milliarden Euro fehlen mit einem Schlag. Der Versuch, das Geld einfach zu verschieben, ist gescheitert. Ausgetrickst.
Damit ist passiert, was viele in SPD, FDP und Grünen zwar befürchtet haben – womit offenkundig aber niemand gerechnet hat. Oder niemand rechnen wollte. Noch kurz vor dem Knall aus Karlsruhe winkten Ampel-Politiker im Gespräch ab, sie erwarteten allenfalls eine Rüge der Verfassungsrichter. Irgendetwas zwischen: "Alles prima" und "Geht gar nicht". Nun ist der Worst Case eingetroffen.
Zwischen Hoffnung, Verzweiflung und vielen Fragezeichen
Es ist 10.06 Uhr, als die Eilmeldung auf den Smartphones aufploppt. Katja Mast hat gerade mit ihrem traditionellen Pressefrühstück im Marie-Juchacz-Saal im Bundestag begonnen. Es ist ein extrem ungünstiger Zeitpunkt. Vor der SPD-Fraktionsmanagerin sitzen eine Reihe von Journalisten, die sie nach den möglichen Folgen des Urteils ausfragen werden – obwohl sie es noch gar nicht kennt.
Tapfer referiert Mast, was in dieser Sitzungswoche auf dem Programm steht – auch sie versucht business as usual. Doch niemand hört aufmerksam zu. Die anwesenden Journalisten lesen die Urteilsbegründung, hacken hektisch in die Laptoptastatur, tauschen erste Nachrichten mit Haushaltspolitikern der Ampel aus. Was ist da los? Einer von ihnen schreibt per SMS, kurz angebunden: "Hier ist alles hoch nervös… Es fehlen 60 Milliarden…"

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Nach ihrem üblichen Vortrag über die Plenarthemen will auch Mast "kurz innehalten", lässt sich von einer Journalistin über die Lage der Dinge unterrichten. Kurz darauf beginnt das Fragen-Stakkato. Es zielt praktisch ins Leere. Nur so viel kann oder will Mast am Mittwochmorgen sagen: Sie gehe davon aus, dass der Haushalt für 2024 wie gehabt im Dezember verabschiedet werden könne. "Stand: jetzt." Auch Mast hat es kalt erwischt.
Damit hat sie viel Gesellschaft. Viele Ampel-Abgeordnete möchten sich zunächst nicht äußern, jedenfalls nicht offiziell – man müsse sich erstmal einen Überblick verschaffen, sagen sie. Viele verweisen auf das angekündigte Statement der Koalitions-Führung. Kanzler Scholz, Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) wollen gemeinsam im Kanzleramt das Urteil kommentieren. Erstmal abwarten, was die sagen – vielleicht ist man danach selbst schlauer. "Es gibt bestimmt einen Plan B", schreibt ein Haushaltspolitiker. Zwischen seinen Zeilen liest man Hoffnung, Verzweiflung – und viele Fragezeichen.
Muss die Schuldenbremse weg? Braucht es ein neues Sondervermögen? Wird jetzt der Rotstift im ganz großen Stil angesetzt? Was bedeutet das für die sogenannte Haushaltsbereinigungssitzung, bei der am Donnerstag doch der Haushalt für 2024 festgezurrt werden soll? Und was für die Zukunft der Koalition?
Die Nervosität im Berliner Regierungsviertel ist greifbar, die Ampel-Parteien rufen ihre Abgeordneten zu Sondersitzungen für den Nachmittag zusammen. Auch die Fraktionsspitzen wollen offenbar erst das Statement von Scholz, Habeck und Lindner abwarten. Punkt 12.45 Uhr ist es dann so weit. Es muss schnell gehen. Schon in 15 Minuten wird der Kanzler im Bundestag erwartet: die Regierungsbefragung. Einfach sausen lassen? Ist keine Option – außer Scholz will das Parlament düpieren.
Entsprechend rasch wird der Auftritt vor der Presse im Kanzleramt durchgezogen. Nach kurzen sieben Minuten ist klar: Das war ein "wichtiges Urteil" (Scholz), es schaffe "Klarheit zur Schuldenbremse" (Lindner), "alle zugesagten Verpflichtungen" würden eingehalten (Habeck). Aber, das machen alle drei deutlich: Das Urteil hat erhebliche Auswirkungen auf den Klimatransformationsfonds – und möglicherweise weitreichende Folgen für die Finanzplanung von Bund und Ländern. Bis diese Folgen konkret abgesehen werden könnten, soll eine Art Ausgabensperre mit wenigen Ausnahmen für den Klimafonds gelten. Die Bundesregierung versucht offenkundig, Zeit zu gewinnen.
"Und jetzt gehen wir zum Bundestag", sagt Scholz.
Eine "Klatsche mit Doppel-Wumms" – oder alles halb so wild?
Um Punkt 13.00 Uhr erscheint er tatsächlich unter der gläsernen Reichstagskuppel, auch Habeck und Lindner nehmen Platz auf der Regierungsbank – ein ungewöhnlicher Vorgang. Normalerweise lassen sich Habeck und Lindner von ihren parlamentarischen Staatssekretären vertreten, wenn Scholz sich befragen lässt. Ihre demonstrative Eintracht zeigt: Normal ist heute gar nichts.
Nach dem Knall aus Karlsruhe sei nun "eine sorgfältige Prüfung" des Urteils nötig, sagt Scholz, "kein Schnellschuss". Da gibt es Applaus aus den Ampel-Reihen, vielleicht auch aus Erleichterung nach den hektischen Stunden zuvor. Das Plenum ist voll besetzt, die Stimmung gereizt. Immer wieder klatschen die Ampel-Abgeordneten demonstrativ gegen das demonstrative Lachen der Opposition an, wenn Scholz auf das "wichtige" Urteil abhebt und eine "sorgfältig" getroffene Antwort ankündigt.
Habeck und Lindner hängen viel am Handy, während Scholz pflichtschuldig Fragen zu Migration oder Flut-Hilfen für Schleswig-Holstein beantwortet – oder auch nicht. Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt (SPD) blättert derweil durch ein schmales Buch, von dem man gern wüsste, was darin steht. Eine gesichtswahrende Lösung für das Debakel?
Das Signal, das von der Entscheidung aus Karlsruhe ausgeht, ist fatal: Schon beim durchgepeitschten "Heizgesetz" schritten die Verfassungsrichter ein, nun senken sie in Sachen Haushalt den Daumen. Die Ampel ist angezählt, so jedenfalls sehen es Friedrich Merz und Alexander Dobrindt. Um 14.11 Uhr ist die Regierungsbefragung beendet, keine zehn Minuten später stehen der Oppositionsführer und der CSU-Landesgruppenchef vor der Unions-Pressewand ein paar Stockwerke höher auf der Fraktionsebene. Der Kampf um die Deutungshoheit hat begonnen.
Dobrindt spricht von einer "Klatsche mit Doppel-Wumms", offenkundig adressiert an den Kanzler. Merz hingegen ruft das "Ende aller Schattenhaushalte" aus und mahnt, dass es jetzt keine Ausreden mehr gebe: Die Ampel müsse nun mit dem Geld auskommen, das sie habe. Für eine Grundgesetzänderung der Schuldenregeln sei die Unionsfraktion nicht zu haben. Dafür aber bräuchte die Ampel die Zustimmung und Hilfe der Union.
Eine halbe Stunde später, es ist 14.50 Uhr, tritt der erste Ampel-Vertreter vor die Pressewand. Es ist FDP-Fraktionschef Christian Dürr. Er gibt ein knappes Statement ab. Er sagt, das Urteil aus Karlsruhe härte die Schuldenbremse, insofern könne er es begrüßen. Er weist allerdings auch darauf hin, dass die heutige Regierung weniger Schulden mache als ihre Vorgängerin. In der Koalition sei man sich einig, die Haushaltspraxis auf das Urteil auszurichten. Fragen lässt auch er keine zu. Wie schon Scholz, Habeck und Lindner im Kanzleramt. Was sollte er auch sagen? Noch fehlen sämtliche Antworten.
Immerhin: Aus der SPD-Fraktion ist zu hören, dass Olaf Scholz ein wenig Ruhe verbreiten konnte. Als wäre das alles gar nicht so schlimm. Der Kanzler soll sachlich und ruhig erklärt haben, dass man sich das anders gewünscht habe, nun aber eben schauen müsse, wie es weitergeht. Nach rund 30 Minuten war die Fraktionssitzung beendet. Business as usual eben. Die Frage ist nur: Wie lange geht das gut?