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Militärisch ohne Bedeutung Warum Wagner-Chef Prigoschin für Russland die Rampensau gibt

Jewgeni Prigoschin nimmt an Beisetzung des getöteten russischen Militärbloggers Tatarski teil.
Jewgeni Prigoschin, Chef der russischen Privatarmee Wagner Group, nimmt an der Beisetzung des getöteten russischen Militärbloggers Tatarski auf dem Friedhof von Trojekurowskoje teil.
© Uncredited/AP/dpa
Militärisch kann Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin kaum noch punkten, aber im Informationskrieg spielt er mit. Und das geschickter, als es auf den ersten Blick scheint. Warum dem Nörgler niemand den Mund verbietet? Weil er für Putin wichtige Zwecke erfüllt.
Von Frauke Niemeyer

Dieser Artikel erschien zuerst bei n-tv.de

Wenn es um Schlagzeilen aus dem Kriegsgeschehen geht, liefert Jewgeni Prigoschin verlässlich. Schimpft der Söldnerchef über "Bastarde" oder "Arschkrampen", kann man inzwischen davon ausgehen, dass die Tiraden nicht auf Ukrainer zielen, sondern sich gegen die eigene, russische Seite richten. Seit Monaten liefern der Chef der Militärfirma Wagner und die Führung der russischen Streitkräfte sich einen Kampf um die Deutungshoheit der Gefechtslage.

Der Vorteil Prigoschins: Er bespielt sehr erfolgreich diverse Medienkanäle im Internet und kann sicher sein, dass seine Behauptungen sich von dort weiter verbreiten. Kamen seine Männer in Bachmut nicht vorwärts, dann lag es auf Telegram an fehlender Munition. Stoßen nun gegnerische Kämpfer in Belgorod vor, dann ist laut Prigoschin das "Chaos" im Verteidigungsministerium schuld. Schließlich erwägt er, dort selbst einzugreifen: "Wir warten nicht auf Einladung."

Die Nase blau-rot geschwollen

Am Wochenende warf Prigoschin der russischen Armee vor, eine Straße vermint zu haben, über die sich seine Leute aus der Stadt Bachmut zurückziehen mussten. Zudem hieß es, es sei auf die Abziehenden geschossen worden. Passend zur Anschuldigung gibt es ein Video mit einer "Befragung" des Kommandeurs der 72. Brigade der russischen Truppen. Diese Einheit hat ebenfalls um Bachmut gekämpft.

Und so sieht es aus, wenn Wagner-Leute einen Kommandeur der verbündeten russischen Truppen "befragen": Roman Venevitin steht, statt in Uniform mit einer Steppjacke bekleidet, von einer Funzel beleuchtet in einem Verschlag und hat eine bemerkenswert blau-rot-geschwollene Nase, was auf Misshandlungen mit Knochenbruch hindeutet. Die Fragen beantwortet er einsilbig und leise.

Er habe betrunken auf ein Auto gefeuert, das zur Wagnertruppe gehörte, sagt der Militär. Der Grund dafür sei "persönliche Abneigung" gewesen. Aus demselben Grund habe er mit zehn bis zwölf eigenen Leuten eine Schnelle Einsatztruppe der Söldner entwaffnet. Wie sein Verhalten zu beurteilen sei, fragt die Stimme hinter der Kamera. "Schuldig."

Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass es sich bei der "Befragung" wohl eher um eine Art Schnellgerichtsverfahren der Marke Wagner handelt, und der vermeintlich Angeklagte gerade in allen Punkten gestanden hat. Was ihn daraufhin als "Strafmaß" in den Händen der Söldner erwartet, lässt sich nur erahnen.

Als Beleg für die Kritik Prigoschins, dass ihm die russische Armee beim Abzug in den Rücken fällt, sind die Aussagen des offenbar gefolterten Kommandeurs wertlos. Doch etwas anderes belegen sie sehr deutlich: Prigoschin führt immer stärker seinen eigenen Kampf an der Front und im russischen Machtgefüge. Und je unwichtiger seine Truppe für das Gefechtsgeschehen wird, desto mehr muss der Chef offenbar auftrumpfen, um im Gespräch zu bleiben.

Jewgeni Prigoschin meckert und lügt

Viele Aussagen Prigoschins aus dem Kriegsverlauf haben sich im Nachhinein nicht beweisen lassen, analysiert der österreichische Militärexperte Markus Reisner. Anders als der Söldner selbst immer wieder behauptete, habe er "im Kampf um Bachmut in großen Mengen Munition bekommen und auch die Waffensysteme, die er gebraucht hat", sagt der Oberst.

"Es geht immer um den Kampf im Informationsraum", sagt Reisner. Auf diesem Schlachtfeld kämpft Prigoschin mit falschen Behauptungen oder meckert über das "Chaos" in der russischen Armee und fungiert in der Öffentlichkeit als der bärbeißige Typ, den die russischen Truppen selbst nicht haben. Auch der aktuelle Generalstabschef der Streitkräfte, Waleri Gerassimow, zeichnet sich eher durch Putin-Vertrautheit aus, als durch strategischen Scharfsinn und Talent als Rampensau.

So kann Prigoschin diesen Job übernehmen und Putin muss nicht fürchten, dass ihm ein redegewandter Militär den Rang ablaufen könnte. Denn der Wagner-Chef kanalisiert die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem holprigen Kriegsverlauf, ohne jemals den Hauptverantwortlichen, den russischen Präsidenten, zu attackieren. Prigoschin, "Putins Koch", wie er auch genannt wird, aus Zeiten, als er noch als Betreiber eines Catering-Service mit Putin Geschäfte machte, konzentriert sich brav auf die zweite Reihe: Verteidigungsminister, Generalstabschef, andere ranghohe Militärs - Leute, die der Kreml jederzeit austauschen kann, wenn mal wieder jemand gebraucht wird, der Schuld hat am Desaster.

Auch den Abzug seiner Leute aus Bachmut zelebrierte Prigoschin mit reichlich Videomaterial für die sozialen Medien. Dabei ist fraglich, wie viele der vornehmlich ehemaligen Häftlinge tatsächlich abziehen, oder ob sie einfach von der Armee übernommen werden und an Ort und Stelle unter neuer Führung weiterkämpfen. Das zumindest wäre auch eine Möglichkeit, das Medienspektakel um Wagners Abzug zu interpretieren: "Es könnte womöglich eine 'Maschkerovka' sein, die russische Tradition der Täuschung", sagt Reisner. Es wäre der Versuch, die Ukrainer mit dem Abzug von Wagner in eine Falle zu locken, sich geschwächt zu präsentieren und dann einen Angriff umso stärker abzuwehren.

Wagner ist weg, bevor die schlechten Nachrichten kommen

Für die Verteidigung im offenen Gelände des Südens ist Prigoschins Truppe ohnehin nicht gut geeignet. Sie basiert auf Sturmkraft durch Infanterie, durch Soldaten mit Maschinen- und Sturmgewehren, die in Städten, im Gebirge oder im Wald schweren Geschützen überlegen sind. Die Front im Süden jedoch, wo die Russen die ukrainische Offensive befürchten, liegt in der offenen Ebene. Dort ist die weitreichende Feuerkraft von Panzern vonnöten.

Für Wagner hat sein medial ausgeschlachteter Abzug einen weiteren Vorteil: Offiziell wäre die Söldnertruppe raus aus der Schlacht, bevor von der Front die unangenehmen Nachrichten drohen. Falls die ukrainische Offensive durchbricht, die Truppen sich Gelände zurückholen, die Russen weichen müssen, würde das nicht mehr mit dem Namen Wagner in Verbindung gebracht. Und Prigoschin kann seine Schlächter entspannt an andere Despoten der Welt verkaufen.

ntv.de

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